Küchenschlacht gedruckt
Fotos: Michelin; Gault Millau; Christian Verlag: Semen Kuzmin/Shutterstock.com

Küchenschlacht gedruckt

Guide Michelin vs. Gault & Millau

von Daniela Müller
Samstag, 17.09.2016
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Florian Zumkeller und Matthias ­Baumann wahren eine besondere Tradition. Seit 1966 wird das Gourmet-Restaurant »Adler« in Häusern im Südschwarzwald durchgehend mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. Ein einsamer Rekord. Seit 2013 kocht die junge Doppelspitze dort auf höchstem Niveau. Klar: Tradition verpflichtet. »Tatsächlich steigt die Nervosität am Tage der Michelin-­Pressekonferenz, an der die neuen Listen bekannt gegeben werden«, so Florian Zumkeller. »Man muss einfach jeden Tag seine Leistung bringen. Wir sind uns bewusst, dass unsere Situation eine ganz Besondere ist, und wir sind stolz darauf«, fügt Baumann hinzu.
Die Urteile der Restauranttester des Guide Michelin und des Gault & Millau sind berühmt-berüchtigt. Kollektiv schicken sie die Spitzenköche der Nationen in den Circus Maximus ihrer Ergebnisberichte. Hebt sich der Daumen, werden Sterne oder Punkte bestätigt oder zusätzlich vergeben. Das bedeutet nicht nur Ehre und Anerkennung für Köche und ihre Teams, es sichert auch Existenzen. Ein Upgrading in eine höhere Punkte- und Sterneklasse bringt im Normalfall mehr Gäste und eine höhere Umsatzleistung. In der Branche werden Zahlen von bis zu 40 Prozent genannt. Es bedeutet aber auch mehr Druck, den Testern im nächsten Jahr wieder zu genügen. Nicht umsonst werden Punkte und Sterne im Fachjargon »verteidigt«. Die Kehrseite der Medaille: Wer zu den Verlierern der Testurteile zählt und Sterne oder Punkte aberkannt bekommt, dem droht nicht selten ein finanzielles Desaster.

Restaurant Adler Florian Zumkeller und Matthias Baumann
Florian Zumkeller und Matthias Baumann kochen im Restaurant
»Adler«, das seit 1966 einen Stern trägt. Foto: Schwarzwald Hotel
Adler Häusern

Guide Michelin: Reifen machen Restaurants

Der wichtigste Hotel- und Restaurantführer der Welt ist ein PR-Instrument des französischen Reifenkonzerns Michelin. Der »Guide Rouge« wurde erstmals im Jahr 1900 ausschließlich auf Frankreich begrenzt herausgegeben. Anfangs listete der Reiseführer für die ersten Autofahrer der Grande Nation lediglich Werkstätten, Batterieladestationen und Tankstellen auf. Erst 1923 erweiterten die Brüder André und Édouard Michelin den Führer mit ­Restaurant- und Hotel-Tipps. Ab 1926 vergab die Redaktion an ganz besonders gute Küchen einen Stern. 1931 verfeinerten sie das System mit zwei weiteren Sternen. Heute ist der Guide Michelin in 23 Ländern präsent. Die einzelnen Länderausgaben sind in einem Netzwerk verbunden, das mit der Zentrale in Frankreich korres­pondiert und von dort mit Standards versorgt wird. Für den Guide Michelin Deutschland zeichnet Ralf Flinkenflügel als Chefredakteur verantwortlich.

Diethard Urbansky und Christoph Kurz
Diethard Urbansky und Christoph Kurz freuen sich über zwei
Michelin-Sterne. Foto: Dallmayr

Gault & Millau: zwei für einen

Der Gault & Millau wurde 1969 von den französischen Journalisten Henri Gault und Christian Millau gegründet. Inzwischen erscheint er in zwölf Ländern, darunter Frankreich, Deutschland, Österreich und die Schweiz. Da der Guide Michelin auf eine eigene Österreich-Ausgabe verzichtet, nimmt der Gault & Millau dort als wichtigster Gourmet-Führer eine Sonderstellung ein. Die deutsche Ausgabe begleitete 29 Jahre Manfred Kohnke als Chefredakteur. 2012 übernahm Patricia Bröhm, Kohnke wurde Herausgeber. Die Redaktionen des Gault & Millau sind ­voneinander komplett getrennt. Zwar existieren untereinander Vereinbarungen, Verträge und gemeinsame Kriterienlisten, de facto ist jeder einzelne Landesguide jedoch Lizenznehmer der Marke.

Essen anrichten
Foto: Dallmayr

Die Bewertungssysteme: Sterne

Anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Guide Michelin in Deutschland in diesem Jahr haben die Oberen des Restaurantführers die Bewertungsaussage ihrer Sterne neu definiert. Aktualisiert bedeutet ein Stern: »Eine Küche voller Finesse – einen Stopp wert! Produkte von ausgesuchter Qualität, unverkennbare Finesse auf dem Teller, auf den Punkt gebrachter Geschmack, ein konstant hohes Niveau bei der Zubereitung.« Zwei Sterne besagen: »Eine Spitzenküche – einen Umweg wert! Hervorragende Produkte, von einem talentierten Küchenchef und seinem Team mit viel Know-how und Inspiration in subtilen, außergewöhnlichen und mitunter originellen Kreationen trefflich in Szene gesetzt.« Drei Sterne stehen »für eine einzigartige Küche, die eine Reise wert ist! Die Handschrift eines großen Küchenchefs! Erstklassige Spitzenprodukte, pure und intensive Aromen, harmonische Kompositionen: Hier wird das Kochen zur Kunst. Perfekt zubereitete Gerichte, die nicht selten zu Klassikern werden.«

Der aktuelle Guide Michelin listet 209 ­Restaurants mit bis zu drei Sternen auf. 2016 wurden 26 Restaurants neu mit einem Stern ausgezeichnet. Doch das 3-Sterne-System birgt Tücken. So wird gerne bemängelt, dass gerade im 1-Stern-Segment eine Tendenz nach oben oder nach unten, also in Richtung eines 2-Sterne-Restaurants oder nach unten in die Sparte der »gehobenen Restaurants«, nicht mehr ersichtlich graduiert werden kann.

Punkte und Mützen

Weitaus flexibler gestaltet sich das Bewertungssystem des Gault & Millau. Bis zu 20 Punkte bzw. vier »Kochmützen« (»Hauben« in Österreich) können von den Testern vergeben werden. Ab 13 und 14 Punkten erhält ein Restaurant eine Mütze, bei 15 und 16 Punkten zwei, bei 17 und 18 Punkten drei und ab 19 Punkten vier Mützen. Weltweit wurde die Höchstwertung von 20 Punkten bislang erst zweimal vergeben: an die inzwischen geschlossene »L’Auberge de L’Eridan« von Marc Veyrat (Frankreich) und das »Oud Sluis« von Sergio Herman (Niederlande). In Deutschland soll es nach Aussage der nationalen Redaktion zu keiner 20-Punkte-Wertung kommen. Schließlich definierten die Gründer Henri Gault und Chris­tian Millau diese Note einst: »Nur der liebe Gott, aber kein Mensch kann Vollkommenheit feststellen.«

Anonymer Restauranttester
Sein Gesicht bleibt unerkannt: Ralf Flinkenflügel, Guide Michelin.
Foto: Michelin

Die Tester

Die sogenannten »Inspektoren« des Guide Michelin üben ihre Funktion hauptberuflich aus. »Der Auswahlprozess für einen Inspektor ist komplex und langwierig. Die Ausbildung zum Koch sowie eine anschließende mehrjährige Erfahrung in der nationalen und internationalen Spitzengastronomie und Hotellerie sind unabdingbar«, erklärt Ralf Flinkenflügel. Getestet wird anonym, das versichern beide Restaurantführer. Alle Speisen und Getränke werden aus eigener Tasche bezahlt, d. h. aus dem redaktionellen Budget des Testers für das jeweilige Restaurant. Jeder der zwölf Inspektoren in Deutschland begibt sich rund ein halbes Jahr auf Test-Tour und nimmt dabei ca. 200 bis 250 Restaurants unter die Lupe. Ist sich ein Inspektor nicht sicher, ob ein Stern verlöschen oder neu verliehen werden soll, kommt er oder ein Kollege einfach noch mal. Dass sich ein Guide-­Michelin-Mitarbeiter nach dem Essen zu erkennen gibt und den Koch anspricht, ist kein Geheimnis. Ein dortiger »Zweit-Test« vom gleichen Inspektor in naher Zukunft fällt dann jedoch aus. »Ziel ist es, eine erneute Wiederkehr des Inspektors innerhalb von zehn Jahren zu vermeiden. Hierfür gibt es ein ausgeklügeltes Rotationssystem«, so Ralf Flinkenflügel.

Die Tester-Reihe des Gault & Millau ist um einiges breiter aufgestellt: »Die Gault & Millau-Tester sind allesamt freie Mitarbeiter, die in ihrem Berufs- und Privatleben aus unterschiedlichsten Gründen gern und oft essen gehen. Sie sitzen also nicht nur in unserem Auftrag regelmäßig zu Tisch«, so Manfred Kohnke. »Die Gault & Millau-Tester sind gelernte Feinschmecker. Das sind sie nicht im Sinne eines Lehrberufs, den es auch gar nicht gibt, sondern aus ihrer Erfahrung heraus.« Für die Ausgabe 2016 zogen in Kohnkes Auftrag insgesamt 32 Tester durch die deutschen Spitzenrestaurants. Dabei wurden 244.800 Euro an Testspesen im weiteren Sinne »verbraten«.

Nur der liebe Gott, aber kein Mensch kann Voll­kommenheit feststellen

Henri Gault
und Christian Millau

Was wird getestet?

»Die Kriterien für die Klassifizierung im Guide Michelin sind weltweit identisch. Grundsätzlich werden die Qualität, das Preis-Leistungs-Verhältnis, die fachgerechte Zubereitung, der Geschmack sowie die Kontinuität bzw. die gleichbleibende Qualität beurteilt«, so Ralf Flinkenflügel. Die Bewertung des Guide Michelin konzentriert sich somit allein auf das Essen. Ambiente und Service spielen eine untergeordnete bis gar keine Rolle. Beim Gault & Millau geht man einen Schritt weiter. Hier spielt der Service sehr wohl eine Rolle. Diesbezüglich betont Patricia Bröhm: »Wie ist der psychologische und professionelle Umgang mit dem Gast? Zur Professionalität gehören z. B. der Zeittakt des Service und die Sachkenntnis zu den Gerichten.« Und zur Psychologie: »Wie ist das persönliche Verhalten, die Auffassungs- und Beobachtungsgabe, das Eingehen auf den Gast?«

Fluch oder Segen?

Sterne und Mützen adeln die Leistung ­eines Spitzenkochs, sie verleihen Aufmerksamkeit und Prestige und locken zuverlässig Gäste in das Restaurant. Proportional dazu steigt naturgemäß auch der Anspruch an den Koch. Diethard ­Urbansky, Küchenchef im Münchner Traditionshaus Dallmayr, erhielt 2016 zwei Sterne vom Guide Michelin und 15 Punkte vom Gault & Millau. Er kennt die Anforderungen: »Natürlich ist man nach dem ersten Stern präsenter, steht deutlicher im Rampenlicht. Einen Stern erhält man ja nicht auf Lebenszeit, dafür muss man tagtäglich und das gesamte Jahr hinweg kontinuierlich die entsprechende Leistung abliefern. Einen Stern möchte man ungern wieder abgeben.«

Vorspeise
Foto: iStockphoto

Psychologische Belastung ist meist groß

Zweifelsohne schaffen die Restaurantführer mit ihren strengen Bewertungsregularien eine relativ zuverlässige Basis. Doch auch wenn sich über Geschmack bekanntlich nicht streiten lässt, so birgt die objektive Bewertung von etwas so Subjektivem und Momentbezogenem wie Geschmack und Genuss stets auch Beurteilungsspielräume. Das verringert nicht gerade die psychologische Belastung für Spitzenköche in dieser Liga. So gab der belgische Koch Frederick Dhooge 2014 seinen Michelin-Stern kurzerhand zurück. Ein drastisches Beispiel, aber kein Einzelfall, ist der Suizid von Friedrich ­Zemanek, dem Koch des Basler Restaurants »Matisse«, im Jahr 2011. Versessen arbeitete Zemanek auf eine hohe Bewertung im Gault & Millau hin. Die vergebenen 14 Punkte entsprachen jedoch nicht den Vorstellungen des ambitionierten Kochs. »Für Zemanek ist eine Welt zusammengebrochen. Mit mindestens 16 Punkten hat er schon gerechnet«, erklärte der »Matisse«-Geschäftsführer Daniel Gehriger damals in der »Basellandschaftlichen Zeitung«. »Er ist dem Druck erlegen.«

Es geht auch ohne

Einer, der sich diesem Druck nicht mehr aussetzen wollte, ist Karl Ederer. Der 61-jährige Witzigmann-Schüler zählt zu den besten Köchen in der Münchner Gastronomie. 1993 kürte ihn der Gault & Millau zum »Restaurateur des Jahres«, 1995 erhielt er mit seinem Restaurant »Glockenbach« einen Stern, 2001 eröffnete er das nach ihm benannte Restaurant »Ederer«. 2015 übergab er es an den Sternekoch Ali Güngörmüs, der es seither unter dem Namen »Pageou« weiterbetreibt. In seiner neuen Traditionswirtschaft »Die Schwalbe« widmet sich Ederer nun seinem »­Heimat Food« genannten Konzept mit anspruchsvollen Gerichten auf der Basis vorwiegend regionaler Zutaten. »Einen Stern zu bekommen, ist für einen jungen, ehrgeizigen Koch ein himmlisches Gefühl«, so Ederer. Trotzdem, so der Starkoch: »Alle Auszeichnungen in Ehre, aber ohne kann man auch leben, hervorragend kochen und gute Gäste haben.« Die Bewertungen der verschiedenen Gourmet-Guides sieht er unumwunden kritisch: »Den Michelin halte ich für sehr gut und seriös, die anderen irren alle im selben Kühlhaus rum. Na ja, sie müssen alle ihre Produkte verkaufen.«

Bewertungskriterien

Michelin:

ein Stern:Küche mit hoher Qualität – einen Stop wert
zwei Sterne:exzellente Küche – einen Umweg wert
drei Sterne:außergewöhnliche Kochkunst – eine Reise wert

Gault Millau:

13-14 Punkte:sehr gute Küche, die mehr als das Alltägliche bietet – 1 Mütze
15-16 Punkte:hoher Grad an Kochkunst, Kreativität und Qualität – 2 Mützen
17-18 Punkte:höchste Kreativität und Qualität, bestmögliche Zubereitung – 3 Mützen
19 Punkte:Bewertung für die weltbesten Restaurants – 4 Mützen
20 Punkte:Höchstnote, weltweit erst an zwei Köche vergeben – 4 Mützen

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