Vergesst Brüssel!
In Belgiens kleineren Städten, selbst auf dem tiefsten Land, wird Genuss gelebt
von Gabriele GugetzerZweisterner wie das Jane (Platz 23 bei den World’s 50 Best 2022), der verlässliche Dreisterner Hof van Cleve (Platz 27), das Zilte, Hertog Jan at Botanic und der neue Dreier Boury haben internationales Renommee. Dass Belgier die besten Pommes frites der Welt und hervorragende Chocolatiers haben, überdies tolles Bier brauen – geschenkt. Nicht nur mit der Pinzette wird hantiert, auch mit dem Schöpflöffel; traditionelle Küche existiert flächendeckend in sehr guter Qualität. Ob im mittelalterlichen Gent, im romantischen Namur, im rockigen Lüttich, im gestylten Antwerpen oder in ländlich-bukolischen Dörfern: In diesem Land schmeckt es! Mit dem Auto oder der Eisenbahn ist es problemlos zu erreichen.
Belgien hat zehn Millionen Einwohner, zehn Provinzen, drei Sprachen. Im Norden und Nordwesten spricht man niederländisch, im Süden französisch. In Brüssel alles. In Ostbelgien deutsch. Eine Provinz heißt Luxemburg, hat aber nix mit dem Staat zu tun. Die junge Generation spricht auch englisch. Hier war man regional, lange bevor das cool wurde. Das Land ist multikulturell, nicht immer klappt das. Aber unterm Strich, interpretiert Thomas Troupin, bedeute Belgien, „dass wir Einflüsse von außen zu unseren machen“. Die Küche, sagt der Einsterner vom ¡Toma! aus Lüttich, das als einziges Restaurant der Wallonie zudem einen Grünen Michelinstern hält, „ist französisch von der Technik her und deutsch von der Großzügigkeit“. Wer hätte gedacht, dass man Deutsche für großzügig hält ...
Zwischen Vol-au-vent, Miesmuschel, Chicorée und Bügeleisen
Die regionale Bandbreite von Gerichten und Produkten ist auf den ersten Blick beeindruckend und auf den zweiten Blick nostalgisch. Irgendwie ist hier die Welt noch in Ordnung. Jedes Dorf hat einen Bäcker. Dort gibt’s neben entzückender Patisserie und gutem Brot Förmchen für Vol-au-vents – für die Wallonen ist das bis heute ein Klassiker, auch an normalen Tagen. Miesmuscheln werden landesweit gegessen, nicht nur an der Küste, nicht nur in der kühlen Jahreszeit. Zu den unvermeidlichen Fritten sind sie kulinarisch selbsterklärend. Der schwarze Topf, in dem sie immer gekocht wurden, hat Kultstatus – auch das durchgestylte ¡Toma! nutzt ihn. Die Lütticher Buletten haben ihre eigene Interessengemeinschaft, der dazugehörige Sirop de Liège wird im besten Fall aus 700 g Äpfeln und Birnen auf 100 g Zucker gemacht. Die Lütticher Weißwurst Boudin Blanc wird als kaltes Amuse mit Kirschmarmelade serviert.
Chicorée ist das inoffizielle Nationalgemüse, wird gefüllt, überbacken oder als Süppchen serviert. Apropos Süppchen: Was früher beim Nachbarn Frankreich selbstverständlich war, nämlich die tägliche Suppe vor dem Essen, wird in Belgien noch praktiziert. Spargel, Kohl, Lauch, Rosenkohl und Pilze stehen hoch im Kurs.
Die berühmten Waffeln macht man in Brüssel (Rührteig) oder Lüttich (Hefeteig, Perlzucker). Die Bügeleisennummer stammt aus Gent. Sie macht ein einfaches Gebäck zum Nachtisch. Das an einen luftigen Bagel erinnernde Mastel wird längs halbiert und mit einem heißen Bügeleisen traktiert, bis der im Gebäck enthaltene Zucker karamellisiert.
Gute Schokolade als Menschenrecht
Jeder Ort hat ihn. Das flache Land hat ihn. Den Chocolatier. Es gibt Hunderte davon. Viele sind Dependancen der international bekannten Marken Neuhaus und Leonidas, aber auch ein junger Chocolatier ohne Namen kann sich denselben machen. Denn was passiert, wenn die örtliche Sparkasse einen Kredit rausrückt und überdies Stammkunde wird, hat Jannes Deduytschaever (29) erlebt. Gewählt zum besten Chocolatier Flanderns, betreibt er in Genter 1A-Lage ein zweistöckiges Atelier mit Fertigungs- und Verkaufsraum. Pierre Marcolini wollte den Standort eigentlich, aber der trödelte. „I was that dumb to jump“, kommentiert Deduytschaever.
Er verarbeitet Ursprungs-Schokoladen von Valrhona anstelle der Produkte vom belgischen Platzhirsch Callebaut. Nüsse für Cremes und Crunch kommen aus dem Piemont und werden selbst geröstet. In der Auslage wird nicht wie herkömmlich gestapelt, sondern mit dem Lineal gearbeitet. Hier kaufen die Genter. Diese überlassen, wie der Chocolatier selbst, die große Schokoshow Dominique Persoone in Antwerpen.
Der ist eine durchgestylte Dampframme, aber auch das funktioniert, denn der selbst ernannte „Shock-o-latier“ beliefert die Dreisterner und betreibt mit der Chocolate Line auf Antwerpens Haupteinkaufsstraße seit 30 Jahren einen Boxenstopp für Touristen.
Die belgische Bierkultur
Mit einem deutschen Reinheitsgebot muss man ihnen nicht kommen. Belgier finden, dass sich auch Schokolade oder Banane in ihrem Lieblingsgetränk – neben Crémant – aufhalten dürfen. Löwen ist Hauptsitz des weltgrößten Brauereikonzerns Anheuser-Busch InBev, dessen belgische Marken Stella Artois, Leffe Blond und Leffe Tripel international bekannt sind. Verkostungen und Touren finden täglich statt. Hof Ten Doormal, eine Viertelstunde außerhalb Löwens gelegen, ist nicht nur dagegen ein Winzling. Getreide und Hopfen für die zwanzig Biere werden selbst angebaut, Hopfenpflücken ist Handarbeit, selbst eine eigene Mälzerei, die kleinste Belgiens, wird betrieben. Getreidereste werden an die hofeigenen Brabanter verfüttert. Die strotzen vor Kraft! Das Konzept klingt in seiner Kreislauf-Idee sehr modern, greift aber eine Tradition Flanderns auf. Alles, was Bauern einst an Gerste übrighatten, wurde verflüssigt.
Berühmt für Käse und Bier sind Klöster. Der Internationalen Trappistenvereinigung (ITA) sind 13 Trappistenklöster angeschlossen, die Bier brauen und verkaufen, darunter Berühmtheiten wie Chimay, La Trappe, Orval, Westmalle und das heiß begehrte Westvleteren. Nur 6.000 Hektoliter pro Jahr werden gebraut, obwohl die Mönche ein Vielfaches verkaufen können, aber nicht wollen; so bringt man das unverwechselbare Aroma des Seltenheitswerts ins Spiel. Für viele Biere existieren spezielle Glasformen wie das Kwakglas in einer geprägten Holzhalterung. Es gibt reich verzierte Prunkkelche, Tulpenformen, in Gent das Gentse Strop mit Galgenstrick, mit anderen Worten: Eine Kölsche Stange sucht man vergebens.
Auch städtische Minibrauer sind im Trend. Die Brouwbar von Jolien d’Hollander und Benjamin Nuytten liegt in der Genter Fressgass Oudburg und ist kaum größer als ein Wohnzimmer. Zweimal in der Woche wird gebraut, 360 Liter, neun Sorten sind immer frisch gezapft verfügbar, knapp 50 Leute können sich draußen und drinnen reinquetschen. Livemusik ist gesetzt, die Jungs kleben sich einfach an der Wand fest. Ihr Braugeheimnis wahren die zwei Quereinsteiger nicht ernsthaft, ständig kommen Neugierige und studieren die Braukessel im hinteren Teil der Bierbrauerei und hinterher die ausgelegte Literatur zum Thema.