Interview

„Ernährungswirtschaft muss radikal umdenken!“

Zwei Köche mit veganen zutaten
In der Ernährungsbranche sind es vegane Produkte, die in kürzester Zeit zu einer ernsthaften Alternative für Fleisch und Milch werden dürften, sagt Wirtschaftsethiker Nick Lin-Hi. (© Gorodenkoff/stock.adobe.com)
Was Tesla für die Autobranche ist, sind vegane Lebensmittel für die Nahrungsmittelindustrie. Das sagt ein Wirtschaftsethiker der Uni Vechta – und rät der Lebensmittelwirtschaft, sich auf massive Veränderungen einzustellen.
Freitag, 15.11.2019, 10:20 Uhr, Autor: Thomas Hack

Die Land- und Ernährungswirtschaft steht aus der Sicht des Wirtschaftsethikers Nick Lin-Hi von der Universität Vechta vor einem Paradigmenwechsel: Vegane Lebensmittel werden in den nächsten Jahren keine Nischenprodukte mehr sein, sondern Milch, Fleisch und Eiern ernsthaft Konkurrenz machen. Die Bauern müssten sich darauf einstellen, lässt Lin-Hi verlauten. Noch hätten sie Zeit, Initiative zu ergreifen.

Herr Lin-Hi, Sie vergleichen die Lage der Ernährungsbranche gerne mit der der Autoindustrie – warum?

Lin-Hi: Weil auch hier neue Akteure auf den Markt kommen, welche die Industrie schnell auf den Kopf stellen werden – das ist das Tesla-Phänomen. Bis 2013 haben in der Autobranche diesen Elektroautohersteller auch viele belächelt. Aber inzwischen wissen wir: Tesla ist der Akteur, der den Markt gedreht hat. Autohersteller versuchen, ihre Elektrooffensive zu machen, hinken aber zeitlich extrem hinterher. In der Ernährungsbranche sind es vegane Produkte, die in kürzester Zeit zu einer ernsthaften Alternative für Fleisch und Milch werden dürften.

Aber noch sind es Nischenangebote für eine Minderheit.

Wir sind gerade in einem perfekten Sturm, der dazu führt, dass sich Ernährung grundsätzlich ändern wird. Ein Vorbote ist der Hype um „Beyond Meat“, den Anbieter veganer Burger aus den USA. Hierdurch fließen jetzt Milliarden von Dollar in die Entwicklung von alternativen Nahrungsmitteln. Das gab es in der Form noch nie. Oder nehmen Sie ein anderes US-amerikanisches Unternehmen, „Perfect Day“, das vegane Milchprodukte wie etwa Eis anbietet. Das Produkt ist ziemlich gut. Alternative Produkte haben das Potenzial, bei Geschmack, Nährstoffgehalt und sogar Preis konventionelle Produkte zu übertreffen.

Und die Verbraucher wollen das auch?

Wir haben einen „grünen Rutsch“ in der Gesellschaft, die Menschen fangen an, anders einzukaufen. Auch, weil die alternativen Produkte nicht mehr in der hintersten Ecke des Supermarktes versteckt sind. Heute liegt der vegane Burger direkt neben der klassischen Schweinsbratwurst. Und die Klimadebatte wird auch bei der Kaufentscheidung im Supermarkt eine Rolle spielen, immerhin steht die Nahrungsmittelindustrie für ungefähr ein Drittel der menschengemachten Klimaemissionen.

Welche Perspektiven haben denn die Landwirte noch, die tierische Lebensmittel erzeugen?

Die Landwirte müssen radikal umdenken. Wir haben noch ein Zeitfenster, in dem die Branche am Wandel mitwirken kann. Aber die industrielle Landwirtschaft wird schrumpfen, davon bin ich überzeugt. Wachstum wird es dort nicht mehr geben. Wer kann, sollte die natürliche Produktion in den Mittelpunkt stellen und das Ganze mit Nachhaltigkeit, Transparenz, und vielleicht auch mit Tourismus verbinden. Die Leute wollen die glückliche Kuh auf der Weide sehen oder das glückliche Schwein. Das ist aber sicherlich keine Lösung für alle.

Und die, die nicht in diese Nische kommen, die müssen sich was völlig anderes überlegen?

Korrekt! Bauern sollten sich über ihren zentralen Vermögenswert, nämlich Land, Gedanken machen. Aktuell sind die Bodenpreise hoch attraktiv, man könnte verkaufen. Oder bieten Sie Land als CO2-Ausgleichsflächen an und tun so etwas für die Zukunft der Enkelkinder. Die Landwirte können auch genossenschaftlich organisiert in neue Geschäftsfelder investieren – wer sagt denn, dass die In-Vitro-Fleischfabrik in Israel stehen muss oder in den Niederlanden? Da haben wir in Deutschland noch Nachholbedarf. (dpa/TH)

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