Ein langer Weg zurück
Aktuelle Analysen von Experten gehen davon aus, dass die gegenwärtige Krise zumindest teilweise mit der Finanzkrise 2008/09 vergleichbar ist. Aber hat die Situation wirklich dieselben Auswirkungen auf die Wirtschaft? Nein, und wenn überhaupt, nur zu einem kleinen Teil, meint der Tourismusökonom und -forscher Egon Smeral, Professor an der Privatuniversität MODUL University Vienna, und erklärt im Detail: „Es wird übersehen, dass die COVID-19-Effekte durch den Aufschub von Entscheidungen nicht nur einen Nachfragestillstand und eine veränderte Erwartungshaltung von Konsumenten und Investoren auslösen, wir haben es hier zusätzlich mit einem dramatischen Angebotsschock zu tun, der nicht unterschätzt werden sollte. So stoppten viele Betriebsstillegungen die Produktion in anderen Wirtschaftsbereichen, wodurch Lieferengpässe entstanden sind, die wiederum die Produktion beschränkten.“ Was diese Konsequenz für die Tourismusbranche bedeutet, schildert der Experte so: „Besonders stark sind die Tourismusbetriebe wie Hotels, Restaurants, Fluglinien, Reisebüros oder Reiseveranstalter von der COVID-19 Krise betroffen, da diese durch die Beschränkung der Reisefreiheit und der Mobilität der Bevölkerung sowie Zwangsschließungen praktisch über Nacht den gesamt Markt verloren haben. Weiters stark betroffen sind der Einzelhandel – ausgenommen Nahrungsmittel und Getränke – sowie Freizeit, Unterhaltung und Kultur.“
BIP-Rückgänge bis zu 10 Prozent sind international zu erwarten
Im Hinblick auf die Wirtschaftsleistung des laufenden Jahres müsse mit starken BIP-Rückgängen gerechnet werden. So legten Modellsimulationen und eigene Überlegungen nahe, dass je nach Eskalationsgrad und Ausbreitung der Ansteckung je nach Land die BIP-Rückgänge 10 Prozent oder mehr erreichen können, unter der Voraussetzung, dass sich in der zweiten Jahreshälfte eine Erholung abzeichnet, erklärt Smeral. „In den günstigsten Fällen müssen Länder nur eine Stagnation in Kauf nehmen. Für das laufende Tourismusjahr liegen noch keine aktuellen internationalen Daten vor, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass die internationalen Ankünfte 2020 auf Basis von eigenen Schätzungen und Erfahrungswerten um etwa ein Drittel sinken könnten. Ähnliche Entwicklungstendenzen sind auch für die Entwicklung der realen Ausgaben für Auslandsreisen zu erwarten.“
Nächtigungsrückgänge bis minus 50 Prozent in Österreich möglich
Für Österreich werden ab Ende April Ergebnisse vorliegen. Aktuelle EU-Erhebungen von Ende März deuten laut Smeral jedoch bereits jetzt darauf hin, dass bis Ende Juni riesige Umsatzrückgänge in der Hotellerie, bei Restaurants sowie Reisebüros und Reiseveranstalter zu erwarten seien. „Diese Zahlen sprechen dafür, dass sie bereits am Beginn der Krise stärker ausfallen als in der Rezession 2009. Insgesamt rechnen wir also damit, dass das Jahr 2020 als „touristisch verloren“ anzusehen ist.“ Konkret sind diese Zahlen durch Nächtigungsrückgänge in der Größenordnung von 30 bis 50 Prozent zu erwarten,“ erklärt der Tourismusexperte. „Obwohl im Laufe des Jahres mit einer wirtschaftlichen Erholung und einer Wiederbelebung der Tourismusnachfrage zu rechnen ist, stellt sich die Frage, wann wieder ein ähnlich hohes Reiseaufkommen wie 2019 erreicht werden kann.“
Eine Branche – viele Faktoren für Prognosen
Um realistische Zahlen und Prognosen für die Branche stellen zu können, müssen viele Faktoren beobachtet werden, so der Wirtschaftsexperte: „Es geht nicht nur im die Herstellung der Reisefreiheit, sondern auch um die Veränderung der Verbraucher- und Reisegewohnheiten, wie etwa den Massentransport, das Aufsuchen überfüllter Restaurants, Konzerte, Geschäftsreisen etc. Auch die nachhaltigen wirtschaftlichen Aspekte gilt es zu bedenken, etwa Einkommensausfälle, die Aussetzung von Steuerreformen, Einsparungen bei Transferzahlungen, Vorsichtssparen der Menschen sowie Einbußen bei den Urlaubsbudgets.“ Unterschiede der Corona-Auswirkungen ortet der Experte auch regional. „Städte müssen sich auf Schwierigkeiten im Geschäfts- und Kongresstourismus oder bei Massenveranstaltungen wie Marathons, Kulturveranstaltungen und Märkten einstellen. Die negativen Effekte in ländlichen Gebieten sind vor allem auf Wintersportdestinationen und den Massentourismus konzentriert.“
Schon mehrmals bewiesene Kreativität der österreichischen Touristiker gefragt
Die Krise erfordert laut Smeral Kreativität bei der Umsetzung neuer Lösungen. Ein Fakt, der gerade im Tourismus schwierig sei und auch nicht auf digitale Maßnahmen umgeleitet werden könne. Auch wenn die eine oder andere Museumstour virtuell genützt werde, der Tourismus ohne „greifbare“ Erlebnisse sei weitgehend nur schwer vorstellbar, so Egon Smeral. „Wir brauchen hier jetzt einen langen Atem und großes Durchhaltevermögen. Es wird nur Schritt für Schritt möglich sein, wieder in eine aktive Tourismuswirtschaft zurückzukehren, ein langsames Anpassen wird nötig sein.“ Bei 150 Millionen Nächtigungen in Österreich wird es nicht ausreichen, auf heimische Urlauber zu setzen, prognostiziert der Experte. „Auch wenn uns im Sommer Nachbarn aus Deutschland und Tschechien vielleicht besuchen können, kann der Rückgang nur längerfristig aufgeholt werden. Im Endeffekt kann jedoch die bereits mehrmals bewiesene Kreativität der österreichischen Touristiker dazu beitragen das Aufholtempo deutlich zu steigern.“