Amazon fordert den Lebensmittelhandel heraus
Bücher, Elektronik oder Spielwaren zu verkaufen, reicht dem Internetgiganten Amazon längst nicht mehr. Schritt für Schritt versucht der US-Konzern auch im Milliardengeschäft mit Lebensmitteln eine Führungsrolle zu übernehmen. Der neueste Vorstoß: Im amerikanischen Seattle öffnet der Internetpionier am Montag seinen ersten „Supermarkt ohne Kassen“ für das breite Publikum.
Amazon drängt in den Lebensmittelmarkt
Wer dort einkauft, braucht nicht mehr an der Kasse anzustehen, um die ausgewählten Produkte zu bezahlen. Er meldet sich beim Betreten des Ladens mit einer App an, packt ein, was er braucht und geht wieder. Möglich wird das durch zahllose Kameras und Sensoren, die jeden Schritt und jede Bewegung des Kunden beobachten. Nach dem Verlassen des Ladens wird dann automatisch in Rechnung gestellt, was mitgenommen wurde. Das Experiment dürfte von der Konkurrenz mit Argusaugen beobachtet werden. Denn in den USA beschränkt sich der Internetgigant längst nicht mehr darauf, Lebensmittel online zu verkaufen. Nach der milliardenschweren Übernahme der Bio-Supermarktkette Whole Foods im vergangenen Sommer hat er auch ein kräftiges Standbein im stationären Handel.
In Deutschland ist der US-Konzern noch nicht ganz soweit. Zwar hielt der Lebensmittelhandel den Atem an, als Amazon im Mai vergangenen Jahres seinen Lebensmittellieferdienst Amazon Fresh auch in der Bundesrepublik startete. Die Sorgen waren groß. Denn niemand wusste, wie dramatisch der durch den US-Konzern ausgelöste Wandel sein würde. Doch nicht einmal ein Jahr später sind die größten Ängste offenbar erst einmal verflogen. „Im Lebensmittelhandel ist eine Ernüchterung zu beobachten, was das Online-Geschäft angeht. Viele haben einen Gang zurückgeschaltet, was den Ausbau ihrer Internet-Aktivitäten angeht“, sagt der E-Commerce-Experte Kai Hudetz vom Kölner Institut für Handelsforschung (IFH). Die Erwartung, dass durch den Start von Amazon Fresh der Online-Handel mit Lebensmitteln unheimlich an Fahrt gewinne, habe sich noch nicht erfüllt.
Deutschland ist ein schwieriger Markt
Zwar stieg der Online-Umsatz mit Lebensmitteln nach den am Montag vom E-Commerce-Verband bevh veröffentlichten Zahlen 2017 um gut 21 Prozent auf rund 1,1 Milliarden Euro. Doch gemessen am Gesamtumsatz mit Nahrungsmitteln entspricht dies nur einem Anteil von rund einem Prozent. Die durch ein dichtes Ladennetz verwöhnten Deutschen erweisen sich als schwierige Kunden für die Onliner.
Das hat Konsquenzen: Beim Internet-Vorreiter Rewe stagniert die Zahl der vom Lieferservice abgedeckten Regionen schon seit geraumer Zeit bei 75. Statt das Netz weiter zu verdichten, testet Rewe lieber in gut 50 Läden Servicestationen, bei denen der Kunde per Internet bestellte Waren selbst abholt. Edeka beschränkt sich mit dem Lieferdienst Bringmeister nach wie vor auf Berlin und München. Amazon selbst legt beim Ausbau seiner Lebensmittel-Aktivitäten in Deutschland bisher auch ein eher geruhsames Tempo vor. Bislang ist Amazon Fresh nur in Berlin, Hamburg und München am Start. Doch wuchs die Zahl der angebotenen Artikel immerhin von mehr als 85.000 beim Start in Berlin auf inzwischen mehr als 300.000 in München.
Wer kann sich durchsetzen?
„Die Händler stehen vor einem Dilemma: Wer zu früh in den Online-Handel einsteigt, verliert Geld. Wer zu spät kommt, verliert Marktanteile. Die Kunst ist es, bereit zu sein, um auf den Zug aufzuspringen, wenn er losfährt. Aber nicht vorher“, meint Hudetz. Auch der E-Commerce-Experten Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein prognostiziert: „Der Online-Anteil beim Verkauf von Lebensmitteln kann in den nächsten zehn Jahren zehn Prozent erreichen. Wie es heute aussieht, wird sich Amazon mindestens 50 Prozent davon sichern. Wenn Rewe und Edeka nicht bald wieder Gas geben, könnten es sogar 80 Prozent werden.“ (dpa/MJ)