Der Michelin in Estland
Wenn der beliebteste Standup-Comedian Estlands vor der geladenen Kochelite des baltischen Landes Witze macht über die Liebe der Köche, gerade der blutjungen und volltätowierten, alles so lange zu fermentieren, bis es in der Wirkung an Nowitschok (Sie wissen schon, den berüchtigten Kampfstoff aus der Produktion des russischen Nachbarn) erinnert und kein beleidigtes Schweigen erntet, sondern Heiterkeitsanfälle
… wenn die Veranstaltung nicht vom Guide Michelin ausgerichtet wird, sondern von Visit Estonia, „weil wir mal ordentlich Spaß haben wollen“ … und wenn man den Austragungsort, das Arvo-Pärt-Konzerthaus, nur auf einem Waldspaziergang erreicht, was die Estonierinnen auf ihren High Heels mühelos hinkriegen … dann wird klar, dass Estland vieles anders macht.
Nachhaltigkeit auf höchstem Niveau
35 Restaurants wurden ausgezeichnet, vier mehr als im vergangenen Jahr. Einen Green Star bekommt Kolm Sosarat, ein Dorfgasthaus in Lüllemäe; Einwohnerzahl 207.
Dieser Neuzugang war das Highlight für Michelin-Chef Gwendal Poullenec, der von der „Nachhaltigkeit auf höchstem Niveau“ ebenso schwärmt wie von der Leidenschaft der zwei Chefköchinnen und ihrer Gärtnerin, die bei der Preisverleihung auch mit auf die Bühne kommt.
Sechs Bib Gourmands wurden vergeben, 27 Assiettes, aber natürlich auch Macarons. Zum zweiten Mal einen Stern gewann Tönis Siigur mit seinem Head Chef Roman Sidorov für Noa’s Chef’s Hall, das ein elegantes, aber müheloses Ambiente mit Blick auf Tallinn und die Ostsee mit einer ebenso eleganten wie unaufgeregten Küche verbindet. Nächstes Jahr sollte der zweite Stern drin sein.
Der Jüngste aus der Brigade ist übrigens der Patissier, Loic aus Paris. Er ist ganze 17 Jahre alt. Für sein zweites Restaurant, das lässigere Noa, fuhr Tönis Siigur auch zum zweiten Mal einen Bib Gourmand ein.
Berliner unter den Ausgezeichneten
Zwei Sterne holte, bereits das zweite Jahr in Folge, allerdings ein Berliner. Matthias Diether vom 180° dürfte deutschen Fernsehzuschauer aus Tim Mälzers „Kitchen Impossible“ bekannt sein.
Er kochte bei Egon Eiermann und Sven Elverfeld, bis 2015 in seinem eigenen Michelinrestaurant in Berlin und ging dann ins Pädaste Manor, das die hohe Kochkunst Estlands überhaupt erst anschob.
Warum nicht mehr Berlin? „Das Baltikum“ findet er, „ist der tollste Ort für Küche im Moment, hier passieren echte Innovationen, aber man ist teamorientiert.“ Und was macht die Bedeutung von Michelinsternen aus? „Junge Leute brennen, die wollen richtig was reißen, aber sie brauchen ein Ziel. Die Gastro bietet das. Ich bin 30 Jahre im Geschäft und habe es keinen Tag bereut.“
(GAGU)