Wie sich die „Sterneküche“ allmählich wandelt
Auf dem Teller liegen einzig und allein zwei armselige kleine Möhren. Von außen sehen sie schwarz und relativ verkohlt aus. Doch der Koch kündigt den Mini-Gang stolz als Delikatesse an, weil der Gemüsegeschmack bei der aggressiven Zubereitung angeblich sehr viel intensiver werde. Das mag verwundern, passt aber wunderbar zum vorherigen Gang: zwei zerteilte Radieschen mit Dip auf einem Steingutteller. Eine solche „rustikale Übersichtlichkeit“ ist heutzutage kein seltener Fall, denn zwanglose Restaurant-Konzepte, vegetarische Gerichte und auf wenige Zutaten reduzierte Kreationen liegen voll im Trend. Dem kommen auch die Macher des Guide Michelin nicht aus: „Es gibt immer mehr junge Köche, die frische Ideen haben und neuen Schwung in die deutsche Spitzengastronomie bringen“, sagte etwa der Direktor des Restaurantführers für Deutschland und die Schweiz, Ralf Flinkenflügel, vor der Buch-Präsentation am Dienstagabend in Berlin.
Mehr Etikette statt teure Speisen?
Lange mussten sich hiesige Feinschmecker die Kritik gefallen lassen, dass sie kulinarischen Hochgenuss nur dann voll zu schätzen wussten, wenn das Essen nach strikten Serviceregeln auf vornehm eingedeckte Tische kam. Doch da ist etwas in Bewegung gekommen. Zwar finden die holzvertäfelten Gourmettempel weiter ihre Klientel, doch in Großstädten ist weiße Tischwäsche längst kein Muss mehr. Kühler Betonfußböden, essen mit unbekannten Nachbarn an der Theke und der ungezwungene Umgang mit Konventionen beim Servieren markieren eindeutig einen Stilwechsel. „Das Casual Fine Dining ist in Berlin extrem durchgestartet“, sagt etwa Stephan Hentschel vom Sternelokal „Cookies Cream“, in welchem ein Vier-Gänge-Menü dort für 59 Euro vergleichsweise günstig ist. „Wir versuchen auch gar nicht, teurer zu werden“, lässt der 37-jährige Spitzenkoch dazu verlauten und verweist darauf, dass sein Publikum mit „35 plus“ noch relativ jung ist. „Zu uns nach Berlin kommen auch viele Food-Touristen“, erzählt er. Sie hätten eine Restaurant-Liste, die sie durchprobierten. Allerdings hat das lockere Ambiente in seinem Top-Laden Grenzen. „Es ist wichtig, dass wir der Frau zuerst aus dem Mantel helfen. Und dass wir am Tisch den Frauen vor den Männern einschenken“, erläutert er dazu.
Moderne „Lockerheit“ und Steingutteller statt Porzellan
Ein Beispiel für eine fast bistroartige Atmosphäre bietet das deutlich teurere „Ernst“ im Berliner Stadtteil Wedding, in welchem zwölf Gäste auf Barhockern Platz finden und am Tresen bedient werden. Rund 25 winzige Gänge, dabei viel puristisch angerichtetes Saison-Gemüse, kommen für 185 Euro auf die Teller. Der Stil des Kochs gilt als klar und fokussiert, weil er auf wenige Elemente setzt. Diesen Trend-Mix bestätigt auch Bernhard Moser, Leiter des Feinschmecker-Festivals Eat!Berlin: „Wichtiger werden Nachhaltigkeit bei tierischen Lebensmitteln, eine sehr gute, entspannt kalkulierte Weinkarte und ein lockerer, aber freundlicher Service.“ Weniger Wert legten viele Gäste auf Tischwäsche, ein Überangebot an Besteck aus Silber und gespreiztes Gehabe. Ein augenfälliges Detail der Lockerheit ist die Mode, feinste Speisen wie Hummer auf grobem Steingutgeschirr zu servieren. „Wenn Delikatessen auf Steingutteller und Schieferplatten gelegt werden – ich finde, das passt nicht so“, sagt dagegen Harald Wohlfahrt. Der Spitzenkoch mag weiße Decken lieber als blanke Tische. Wenn man „Streicheleinheiten für den Gaumen“ kreiere, sollte seiner Meinung nach auch der Rest vom Niveau her passen. Alt und neu, beides dürfte noch länger parallel existieren, urteilt auch der Gastronomie-Fachmann Moser: „Ich denke, dass die klassischen Restaurants vor allem im nicht-urbanen Raum nicht aussterben werden.“ (dpa/TH)