Wein aus ungewohnten Quellen
Besuchern der nördlichsten Weinrebstöcke Deutschlands weht eine Meeresbrise um die Nase. Auf Sylt wachsen auf rund 3000 Quadratmetern – das sind 0,3 Hektar – Solaris und Rivaner. „Es ist ein spannendes Projekt und bietet eine einzigartige Story“, erklärt Kenneth Barnes. Er ist Vertriebsleiter Deutschland beim Weingut Balthasar Ress im Rheingau, zu dem die Rebstöcke auf Sylt gehören. Im Stammland umfasst das Anbaugebiet 42 Hektar. Etwa 250.000 Flaschen werden dort im Jahr produziert. Davon ist der Sylter Ertrag weit entfernt. Deutschlandweit gibt es insgesamt 100.000 Hektar Weinanbaugebiet.
Bis jetzt nur ein Souvenir
Wer auf der Insel Urlaub macht, nehme den Wein aus „Meeres-Trauben“ gerne als Souvenir mit, erklärt Barnes. Dabei handelt es sich um ein vergleichsweise teures Mitbringsel für je 65 bis 75 Euro. Allerdings sei der Aufwand für die Winzer auf Sylt recht hoch, so Barnes. Ausrüstung und Erntemitarbeiter müssten vom Rheingau zu jeder Lese in den Norden gefahren werden. Lohnstückkosten verdoppelten sich für diese Einsätze. Und dann entstünden im Jahr nur etwa 600 Flaschen.
„Der Anbau allein lohnt sich überhaupt nicht, aber darum geht es nicht“, sagt Barnes. Die Herausforderung an einem solchen Standort Wein anzubauen, mache den Reiz aus. Zudem bescherten Deutschlands nördlichste Rebstöcke dem Weingut viel Aufmerksamkeit. Die Pflanzung auf Sylt galt lange als eine Ausnahme im strikten Weingesetz, die nur möglich wurde, weil Schleswig-Holstein einst zehn Hektar Rebenpflanzrechte von Rheinland-Pfalz übertragen bekam. Die Genehmigung ist nötig, wenn Wein kommerziell angebaut wird.
Pflanzrechte für Gebiete außerhalb der gesetzlich festgelegten 13 Weinanbaugebiete Deutschlands zu bekommen, war bis vor Kurzem fast unmöglich. Fernab von Franken, Saale-Unstrut und Co. gab es fast nur Hobbywinzer. Aber auch unter dieser Regelung entstanden einige spezielle Tropfen: Winzervereine dürfen im Norden etwa Mecklenburger Landwein anbieten, die zweithöchste Weinkategorie.
Nordischer und urbaner Wein
„Weine aus norddeutschen Regionen sind eine Spezialität“, weiß Ernst Büscher vom Deutschen Weininstitut. Sie werden oftmals nur zu besonderen Anlässen ausgeschenkt und sind über die klassischen Vertriebswege kaum erhältlich. „Selbst in Deutschland wissen ja viele Menschen gar nicht, dass beispielsweise in Schleswig-Holstein oder Berlin Reben wachsen“, sagt Büscher. Tatsächlich stehen in Berlin etwa im Stadtteil Kreuzberg seit einigen Jahren Rebstöcke. Der Mini-Weinberg gehört dem Stadtbezirk. Freiwillige pflegen ihn. „Die Fläche ist viel zu klein, um hier auch nur ansatzweise Wein mit Gewinnabsicht zu erzeugen“, erklärt der ehemalige Kreuzberger Chef-Winzer Daniel Mayer.
Auch Thomas Eichert setzt auf Weinanbau im urbanen Raum. Er zieht an 30 Standorten in Köln Wein an Häuserwänden hoch – mit jeweils 50 Prozent Erntebeteiligung. Etwa 300 Liter hat Eichert so im vergangenen Jahr erzeugt. Aber auch er darf den Wein bisher nicht mit Gewinn abgeben. Ein bisschen Geld verdient er indirekt damit. „Ich verkaufe die Geschichten“, erklärt der 55-Jährige. Auf Führungen entlang der Reben-Wände erklärt er Touristen und Interessierten die Weintradition der Rheinmetropole. Allerdings hofft Eichert, einen kleinen Hügel zum offiziellen Weinberg umwandeln zu dürfen. Aktuell besteht sogar grundsätzlich eine Chance dazu, auch ohne eine Ausnahme wie auf Sylt. Denn mit der Änderung eines EU-Gesetzes und der Anpassung des deutschen Rechts ist inzwischen theoretisch in jedem Bundesland kommerzieller Weinanbau möglich. Über 308 Hektar Neupflanzungsrechte hat die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BEL) 2017 in 13 Bundesländern genehmigt.
Die Rebenlandschaft wird vielfältiger
Schon im vergangenen Jahr gab es die ersten Neuzulassungen. In Niedersachsen etwa – bisher ein weißer Fleck auf der Rebenlandkarte – haben zehn Neu-Winzer Rechte erworben, auf insgesamt 7,6 Hektar Fläche Rebstöcke anzubauen. Einer von ihnen, Michael Winkler aus Göttingen, hat bereits die ersten 5.000 Quadratmeter mit der robusten Rebsorte Solaris bepflanzt. Und der Klimawandel tut das Übrige, damit Reben auch im Norden Deutschlands gedeihen können. Allerdings sei das wirtschaftliche Risiko und der Aufwand, in nördlicheren Regionen nachhaltig Weinbau zu betreiben, nach wie vor sehr groß, so der Deutsche Weinbauverband.
Ob Weine mit vielfältigerer Herkunft neue Impulse bringen, können Experten noch nicht abschätzen. Im großen Stil konkurrenzfähig würden diese nicht, sagt auch Barnes. Punkten könnten die Rebensäfte aber mit ihrem Exoten-Status. Schließlich seien Kunden bereit, für den Wein mit „Sylt-Faktor“ gutes Geld auszugeben. Einen geschmacklichen Unterschied zu anderen Weinen gebe es auch, meint Barnes: „Ich bilde mir schon ein, dass der Sylter Wein salziger ist.“ (dpa/MJ)