Gastwelt als „Integrationsmotor“ für junge Menschen ohne Abschluss
In absoluten Zahlen ausgedrückt: Hierzulande gibt es knapp drei Millionen Ungelernte zwischen 20 und 35 Jahren, Tendenz steigend. Im Jahr 2018 machten sie noch weniger als 15 Prozent ihrer Altersjahrgänge aus, 2022 bereits über 19 Prozent, wie aus dem Berufsbildungsbericht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hervorgeht.
„Das bedeutet, dass die Gruppe der ungelernten jungen Menschen längst ein immenses Potenzial für unseren Arbeitsmarkt darstellt. Ein Schatz, der darauf wartet, gehoben zu werden“, sagt DZG-Vorstandssprecher Dr. Marcel Klinge.
Voraussetzung sei, dass die neue Bundesregierung für diese quantitativ sehr große Gruppe neue und breitangelegte Fördermaßnahmen einleite, um dem konjunkturschädlichen Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken und den betreffenden Menschen positive Zukunftsaussichten zu geben. Immerhin ist derzeit jeder Zehnte unter 25 Jahren ohne Job.
Dass die Bundesrepublik im Zuge des demografischen Wandels gut qualifizierte Arbeitskräfte benötigt, ist unstrittig: Die Personallücken, die sich in allen Wirtschaftszweigen mit dem Rückzug der geburtenstarken Jahrgänge mehr und mehr auftun, gefährden langfristig Wertschöpfung und Steuereinnahmen.
Aufgrund der Tatsache, dass laut Bundesagentur für Arbeit (BA) jährlich mehr als 400.000 Personen einreisen müssten, um den Fach- und Arbeitskräftemangel national zu kompensieren und die Wirtschaft insgesamt am Laufen zu halten, kann auf diese drei Millionen Ungelernten unter 35 auf keinen Fall weiter verzichten werden, so die Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO im Auftrag der Denkfabrik Zukunft der Gastwelt (DZG).
Geringqualifizierte sind bereits da und werden langfristig gebraucht
Geringqualifizierte junge Menschen haben gegenüber Migranten einen unübersehbaren Vorteil: Sie sind bereits im Land, während viele Zuwanderer, die dringend gebraucht würden, zögern und auf der Suche nach Arbeit nicht selten andere Einwanderungsländer bevorzugen. Die Bundesrepublik ist unattraktiv, liegt im OECD-Vergleich bei der Fachkräfte-Attraktivität lediglich auf Platz 15.
„Die gezielte Aus- und Weiterbildung von geringqualifizierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen bietet erhebliches Potenzial, um den Arbeits- und Fachkräftemangel in Deutschland effektiv zu mildern“, sagt Professorin Dr. Vanessa Borkmann, Leiterin des Forschungsbereichs „Stadtsystem-Gestaltung“ am Fraunhofer IAO und verantwortlich für die Studie „Integrationsmotor Gastwelt“. „Gelingt es uns, einen Großteil dieser Gruppe zeitnah zu qualifizieren und dauerhaft in Arbeit zu bringen, ist das ein unschätzbarer Beitrag, um unsere umlagefinanzierten Sozialsysteme und die Lohnnebenkosten zu stabilisieren.“
Gerade die Gastwelt ist dabei als „Integrationsmotor“ in Deutschland anzusehen. Denn die 250.000 Betriebe des Dienstleistungssektors bringen nicht nur Migranten schnell und niederschwellig in Lohn und Brot, sondern ermöglichen auch geringqualifizierten jungen Menschen die Möglichkeit, einen dauerhaften Einstieg in die Arbeitswelt zu schaffen.
Noch zu wenig staatliche Förderung in Deutschland
Doch diese Möglichkeiten würden bislang nicht richtig ausgeschöpft, da berufliche Weiterbildung und die Schaffung von Ausbildungsplätzen bis dato unzureichend gefördert werden. „Das muss nun eine vordringliche Aufgabe der neuen Bundesregierung werden“, unterstreicht DZG-Sprecher Klinge.
Vor Corona hat z. B. jeder zweite deutsche Betrieb Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen unterstützt. Doch mit Beginn der Pandemie ist dieser Bereich – vor allem aus Kostengründen – rückläufig. Gleichwohl braucht es eine gezielte Aus- und Weiterbildung für geringqualifizierter Menschen.
Den Grund macht eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung anschaulich: Sie sagt aus, dass vor allem die hohen Kosten ein entscheidender Faktor sind, weshalb Geringqualifizierte kaum Weiterbildungen in Anspruch nehmen. Zudem fehlt es ihnen vielfach an Informationen über mögliche Angebote. „Soziale Medien wie TikTok und Instagram könnten uns hier spürbar weiterhelfen“, betont Klinge.
Höhere staatliche Investitionen in Bildung, Ausbildung, Training und Weiterqualifizierung könnten also zum „Game-Changer“ werden, um Menschen unter 35 ohne Abschluss erfolgreich in den Arbeitsmarkt zu integrieren – mit vielen finanziellen Vorteilen für den Steuerzahler. Solange diese Förderung aber zu kurz komme, stünden viele geringqualifizierte Junge, die in der Regel über ein geringes Einkommen verfügen, vor einer unüberwindlichen strukturellen Barriere.
Deutschland in Sachen Weiterbildung international schwach aufgestellt
Doch nicht nur bei der schnellen Integration von Zuwanderern, sondern auch bei der Weiterbildung Geringqualifizierter schneidet Deutschland im internationalen Vergleich eher schlecht ab – sowohl in Bezug auf die Teilnahmequote als auch auf das Lohn- und Kompetenzniveau.
Wenig überraschend machen es auch hier andere Länder besser: Schweden oder Kanada können als Musterbeispiele gelten, an denen sich die deutsche Politik orientieren könnte. So setzen die Skandinavier auf Lohnsubventionen für Arbeitgeber, die geringqualifizierte Jugendliche und junge Erwachsene einstellen. Die Kanadier legen Programme auf, die auf die Kombination von praktischer Arbeitserfahrung und Ausbildung abzielen, um die Beschäftigungsfähigkeit junger Menschen zu verbessern.
Gastwelt-Unterstützung verspricht schnelle Investitionserfolge
„Die Bundesregierung wäre arbeitsmarkt- und finanzpolitisch also gut beraten, ähnliche Programme umzusetzen“, sagt DZG-Sprecher Klinge.
Angesichts von derzeit über 100.000 Arbeitskräften, die allein in der Gastwelt fehlen, sei durchaus Eile geboten. So geht das Fraunhofer IAO davon aus, dass sich die Arbeitskräftelücke bis Anfang der 2030er-Jahre auf bis zu 600.000 fehlende Beschäftigen erhöhen wird. Wissenschaftlerin Borkmann plädiert daher dafür, bei der Implementierung von Integrations- und Weiterbildungsprogrammen sowie der Ausbildung Ungelernter konsequent auf die Gastwelt zu setzen. „Auch hier fungiert der Dienstleistungssektor als effektiver Integrationsmotor.“
Zusätzliche staatliche Investitionen in diesen Bereichen sollten sich indes schnell auszahlen. Was daran liegt, dass knapp ein Viertel der aktuell offenen Stellen der Gastwelt „ohne Weiteres“ in einem ersten Schritt durch geringqualifizierte Personen besetzt werden können. Damit wäre indirekt auch strauchelnden Betrieben geholfen, durch neues Personal ihr Geschäft zu stabilisieren.
Das unterstreicht auch eine Umfrage unter 750 Entscheidern, die das Fraunhofer IAO im Zuge seiner Studie „Integrationsmotor Gastwelt“ vorgenommen hat: Hier stuften deutlich mehr als die Hälfte der befragten Führungskräfte die Integration Geringqualifizierter für den betrieblichen Erfolg als „sehr wichtig“ oder „wichtig“ ein.
(DZG/SAKL)