Individualisierungstrend: der Aufstieg der »Extrawurst« zum ultimativen Star der innovativen Gastro-Szene
Foto: picture alliance / David Ebener

Jeder nach seinem Geschmack

Individualisierungstrend: der Aufstieg der »Extrawurst« zum ultimativen Star der innovativen Gastro-Szene

von Daniela Müller
Donnerstag, 05.03.2020
Artikel teilen: 

Wer nach einem Pionier in Sachen Individualisierung des Speisenangebotes in der Gastronomie gefragt wird, dem fällt wahrscheinlich als Erstes Vapiano ein. Tatsächlich hatte das Franchise-Konzept, das Gründer Mark Korzilius 2002 mit der ersten Filiale in Hamburg an den Start brachte, sofort einen Nerv bei den Gästen getroffen, denn es gewährte ihnen einen relativ hohen Grad an Selbstbestimmung. Gemäß den individuellen Wünschen entstand das Gericht vor den Augen der Besteller. Der Rest ist Geschichte. Bis heute wurden rund 230 Vapianos in 33 Ländern auf fünf Kontinenten eröffnet. Der erste Gastronom, bei dem jedermann ein (zumindest teilweise) maßgefertigtes Gericht ordern konnte, war Korzilius trotzdem nicht …

Individualisierung darf nicht zur Materialschlacht ausarten

Bereits im Jahr 1984 brachte etwa Rudolf Hochreiter eine brillante Idee aus den USA mit nach Deutschland: »food by phone«. Mit der Eröffnung seines ersten Geschäfts in München-Haidhausen legte er noch im selben Jahr den Grundstein für die Marke Call a Pizza. Mittlerweile hat sich das Konzept mit 107 Standorten zu einem der führenden Unternehmen der Franchise- Systemgastronomie in Deutschland entwickelt. Im Sortiment von Beginn an: Die Pizza Margherita mit Zutaten nach Wahl des Kunden. Mittlerweile heißt sie ganz trendy »Free Style« und trifft damit den Zeitgeist besser denn je.

Thomas Wilde, heute Inhaber und Geschäftsführer der Call a Pizza GmbH, hat vom ersten Tag an miterlebt, wie die Heimlieferkette sich mit den wachsenden Ansprüchen der Kunden weiterentwickelt hat. Erst als Pizza-Fahrer, dann als Mitarbeiter in der Küche und später als Franchisenehmer. Waren es anfänglich gerade mal sieben Pizza-Rezepturen und 13 Zutaten, die angeboten wurden, haben die Besteller heutzutage buchstäblich die Qual der Wahl – aus 45 Zutaten und 42 Pizza-Rezepturen. Dazu kommen Pasta-Gerichte, Snacks, Salate und mehr.

»Die Erwartungen der Kunden sind wahnsinnig gestiegen. Es artet in eine Materialschlacht aus, wenn man alle Wünsche erfüllen möchte«, schmunzelt er. Um trotz aller Individualisierungstendenzen das Geschäft rentabel zu halten, stellt er sein Angebot regel­mäßig auf den Prüfstand. »Das ist notwendig, da wir eine entsprechende Nachfrage benötigen, um z.B. sinnvoll einkaufen und die erwartete Frische zu 100 Prozent garantieren zu können«, erklärt er. Eine Extrawurst ist eben in der Gastronomie trotz Individuali­sierungstrend nur rentabel, wenn ge­nügend Menschen sie nachfragen. So trennte sich Wilde, selbst bekennender Salami-Pizza-Fan, jüngst wenig schweren Herzens von der Pizza mit Mandarinen – die exotische Kreation überzeugte schlichtweg nicht genügend Pizzafreunde.

Japanisches Essen
Foto: Poké You

Quantität alleine reicht nicht

Auch ohne Mandarinen – so gut wie jede Ernährungsform kann bei Call a Pizza ausgelebt werden. Alleine bei den Pizzen sieht das folgendermaßen aus: Veganer oder laktosefreier Teig, wahlweise eine vegane Käsealternative, optional Käse im Rand, eine selbst ent­wickelte »Crust-Dipper«-Range in verschiedensten Geschmacksrichtungen u.v.m. lassen keine Wünsche offen und ermöglichen die absolut individuelle Pizzakreation. Anhänger der hippen gesunden Ernährung werden ebenso fündig wie kalorienbewusste Esser – alle Nährwerte sind beim Bestellen auf der Webseite übersichtlich dargestellt.

Dabei betont Wilde: »Nicht nur die Quantität der Auswahl-Möglichkeiten, auch die Qualität der Zutaten macht unser Konzept erfolgreich. Wir beziehen z.B. Hähnchen und Rindfleisch schon lange bei Frosta, Wurstwaren bei der Otto Nocker GmbH im Allgäu, Sahne und Hefe von Meggle. Unsere Kartons werden ebenso in Deutschland hergestellt.« Ein moderner und frischer Auftritt nach außen und eine konsequent durchgezogene Corporate Identity machen die Sache rund. Das Fazit muss deshalb lauten: So sieht ein durchdachtes Konzept inmitten des Individualisierungshypes aus.

Müsli auf DNA-Basis

Unter den ersten Start-ups, die das Thema Individualität erfolgreich – quasi als Trendsetter – in der jungen Generation vorangetrieben haben, war auch das Passauer Unternehmen mymuesli, das 2007 mit der Idee online ging, jedem sein eigenes Bio-Müsli zu mixen. Seitdem wurde das Konzept kontinuierlich weiterentwickelt. Mittlerweile können Müslifreunde sogar die eigene Müsli­dose mitgestalten, dafür stehen verschiedene Designs zur Auswahl. Was in die Dose kommt, wählt der Kunde aus 75 bis 80 Zutaten aus. »Natürlich sind da immer wieder Zutaten dabei, die wir einfach ausprobieren wollen, weil wir es witzig finden, damit ein Müsli zu mixen«, so Pressesprecherin Wenke Blumenroth. »In den ersten Jahren waren das zum Beispiel mal Gummibären oder Karottenstücke zu Ostern. Entscheidend bei der Zutatenauswahl ist aber genauso, wie sich die Zutaten in unserem Mixer verarbeiten lassen. Wenn es schnell verklebt oder verklumpt, macht es weniger Spaß beim Essen.«

Dabei sieht mymuesli in der Individualität des eigenen Angebots keinesfalls die einzige Erfolgszutat des Firmenkonzepts. Auch das Trendthema Nachhaltigkeit hat man sich auf die Fahnen geschrieben, denn darauf legt der Müsli-Kunde in der Regel ebenso Wert. Hundertprozentige Bio-Qualität und nachhaltige Landwirtschaft gehören dazu – mymuesli ist Mitglied im Anbauverband Biokreis. »Wir kaufen so viele Zutaten wie möglich regional oder national ein.« In puncto Verpackung hat sich ebenfalls viel getan: »Heute bestehen unsere Dosen aus 55 Prozent weniger Kunststoff und knapp 90 Prozent Papier – 64 Prozent davon sind sogar recyceltes Altpapier. 100 Prozent recycelbar waren die Dosen übrigens schon immer«, berichtet Wenke Blumenroth stolz.

Lieferdienste
Auch der Home-Delivery-Bereich  muss heute viele individuelle
Wünsche berücksichtigen – das hat auch Call a Pizza erkannt.
Foto: picture alliance/Keystone

Selbstbezogene Verbraucher fordern Gastronomie heraus

Wie extrem das Bedürfnis nach maßgeschneiderter Ernährung gegenwärtig ist, beweist die Nachfrage nach dem noch relativ jungen Angebot, sein Müsli auf Basis der eigenen genetischen Informationen zusammenstellen zu lassen. Basis dafür bietet der Stoffwechseltyp, den die Kunden vorher mit Lykon, einem Kooperationspartner von mymuesli, mittels eines DNA-Selbsttests ermitteln lassen. Blumenroth: »Wir bekommen dann mitgeteilt, um welchen Stoffwechseltyp es sich handelt, um entsprechende Empfehlungen für Müslizutaten geben zu können.« Der Müsli-Händler ist also definitiv ein Musterbeispiel dafür, wie der Wunsch nach selbstbestimmter Ernährung sogar engste Nischen erfolgreich und dauerhaft beleben kann.

Das bestätigt Trendscout Karin Tischer, Geschäftsführerin von food & more, die auch in diesem Jahr im Vorfeld der Fachmesse INTERNORGA ihre aktuelle Studie Foodzoom präsentiert hat. Während Essen früher dem Überleben diente, ist es heute zum Differenzierungsmerkmal, zur Religion, zum Statement geworden. Kaum ein Gastronom wagt es z.B. noch, keine veganen oder vegetarischen Speisen anzubieten – je nach Konzept mal mehr und mal weniger. »Weil aber einigen Verbrauchern die streng vegane oder vegetarische Ernährung zu anstrengend erscheint, sich aber bei vielen Menschen in der Bevölkerung ein zunehmend gesundheitsorientiertes Bewusstsein entwickelt, ist die insgesamt pflanzenorientiertere Ernährung, der sogenannte Plantarismus, die große Ausrichtung der Zukunft. Das sollte jeder Gastronom bedienen«, rät Karin Tischer.

Poké You
Im Poké You können Gäste ihre Bowl aus einer Vielzahl von
frischen Komponenten nach ihren eigenen Vorlieben
zusammenstellen. Fotos: Poké You

Poké Bowl nach dem Selfmade-Prinzip

So wie 2-Sterne-Koch Karlheinz Hauser (Süllberg) und sein Sohn Tom. Beide haben mit ihrem neuen Konzept »Poké You« erfolgreich eine Nische besetzt, die trotz Spezialisierung mainstreamtauglich ist: Die Poké Bowl ist ursprünglich ein Nationalgericht auf Hawaii. Doch sie vereint eben obendrein all das, was derzeit hip ist: frische und gesunde Komponenten, die der Gast gemäß seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu einem kulinarischen Gesamtkunstwerk werden lassen kann. Die eigene Bowl aus über 50 verschiedenen Zutaten selbst zusammenstellen zu können, bietet nun mal unzählige Variationsmöglichkeiten und immer wieder neue Geschmackserlebnisse. »Die ernährungstechnischen Entwicklungen haben wir in unser Konzept ideal eingegliedert, sodass jeder Gast, der eine Unverträglichkeit besitzt, sich vegetarisch bzw. vegan ernährt oder aber gerne Fleisch isst, bei uns auf seine Kosten kommt«, verspricht Tom Hauser.

Die beiden Gründer bezeichnen ihr Angebot als »gesundes Fastfood«. Dieses, so sind sie sich sicher, ist eben nicht nur etwas für die jüngere Generation. »Natürlich haben wir viele junge Gäste, aber gerade zur Mittagszeit sind es viele Geschäftsleute, die sich schnell, unkompliziert und gesund ernähren möchten«, so Tom Hauser. Dass selbstverständlich alle Gerichte im Poké You »instagrammable« sind, also fotogen für den Auftritt in den sozialen Medien angerichtet werden, ist absolut kein Zufall, sondern Teil der cleveren Mar­ketingstrategie. Auch der Digitalisierungstrend wurde berücksichtigt: In den Stores stehen Self-Order-Terminals bereit, und im Online-Ordershop können Bowls ganz bequem vorbestellt werden. Dass die Verpackungen zu 100 % nachhaltig sind, versteht sich bei so viel Trendbewusstsein fast von selbst.

Convinience Burger
Foto: Salomon FoodWorld

Convenience für Individualisten

Alles richtig gemacht in Sachen Trends – das dürfen auch die Foodservice-Experten der Salomon FoodWorld von sich behaupten. Als Hersteller und Lieferant müssen sie noch viel eher als die Gastronomen auf aktuelle Entwicklungen in der Gesellschaft reagieren. Mit den Zutaten aus dem Produktsortiment lassen sich beispiels­weise mehr als 4,5 Mio. mögliche Burger-Kombinationen herstellen. Mehr Individualisierung geht wirklich nicht. Und trotzdem achten die Produktentwickler immer darauf, dass jede einzelne Kreation massentauglich ist – denn in Schönheit zu sterben, nutzt dem Gastronomen nichts, wissen die Experten.

Jochen Kramer
Jochen Kramer,
Leiter Marketing,
Foto: Salomon FoodWorld.

Die Vorliebe der Gäste für immer neue Individualisierungsmöglichkeiten birgt für die Produkt­entwickler spannende Herausforderungen: »Wir sehen dadurch eine riesige Schere, die sich öffnet: Auf der einen Seite massiv steigende Kundenansprüche, auf der anderen Seite fehlende Kapazitäten und Know-how in der Küche«, berichtet Jochen Kramer, Leiter Marketing bei Salomon FoodWorld. Dabei ginge es eben nicht nur darum, dem Koch die Produktion von Extrawürsten zu erleichtern. Auf der anderen Seite bedeute Individualisierung nämlich auch, dass das Angebot für den Gast persönlicher und greifbarer wird. »Ein Beispiel aus dem Burger-Bereich: Dort haben wir seit letztem Jahr das Thema Teilstücke mit Brisket und Flank aufgegriffen, sodass der Gastronom dort noch individueller und spezifischer auf der Karte Themen ausloben kann.«

Den Gast faszinieren und begeistern – etwas bieten, was er zu Hause nicht bekommt. Das bedeutet zu 100 % Erfolg

Jochen Kramer,
Leiter Marketing bei Salomon FoodWorld

Ist das Bündeln individueller Wünsche, die »kollektive Extrawurst«, also tatsächlich ein Erfolgsgarant für junge Konzepte? »Ich denke, es gibt keine einfache Erfolgsformel für alle«, so Jochen Kramer. »Aber natürlich gibt es Gastronomen, die sehr erfolgreich spezialisiert sind auf ein Thema – z.B. das Restaurant The Avocado Show in Amsterdam. Auf der anderen Seite sind viele Gastronomen erfolgreich, die es schaffen, mit einem breiten Angebot die Gäste zu locken. Vielleicht muss ich mich revidieren und es gibt am Ende doch eine gemeinsame Erfolgsformel: Den Gast faszinieren und begeistern – etwas bieten, was er zu Hause nicht bekommt. Das bedeutet zu 100 % Erfolg.«

Siehe Nachgefragt: Christine Schäfer vom GDI auf Seite 2

Weitere Artikel aus der Rubrik Titelstory

Artikel teilen:
Überzeugt? Dann holen Sie sich das HOGAPAGE Magazin nach Hause!