Vegetarisch Gericht
Ingo Petramer

Vegetarisch hat nichts mit Verzicht zu tun

von Clemens Kriegelstein
Dienstag, 06.06.2017
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Dass das Potenzial in dem Segment aber um einiges höher liegt, dass man ohne Fleisch oder Fisch sogar mit einem Michelin-Stern und drei Gault-Millau-Hauben ausgezeichnet werden kann, beweist das Wiener Restaurant TIAN.

Es hat schon unbestreitbare Vorteile, wenn man finanziell so weit abgesichert ist, dass man seine Visionen verwirklichen kann, ohne sich bei der Hausbank die Kniebereiche seiner Hose aufscheuern zu müssen. Christian Halper etwa nutzte diese Möglichkeit, um vor einigen Jahren ein bis dato einzigartiges kulinarisches Konzept umzusetzen. Der ehemalige Mitbegründer eines erfolgreichen Investmentfonds zog sich 2010 aus dem Börsengeschäft zurück und eröffnete Ende 2011 ein rein vegetarisches Fine-Dining-Restaurant namens TIAN (was im Chinesischen so viel wie »Himmel« bedeutet) in Wien.

Als Küchenchef fand Halper den gebürtigen Tiroler Paul Ivic, der seit der ersten Stunde für das kulinarische Konzept verantwortlich zeichnet. Beide verbindet – wenig überraschend – das Interesse an bewusster Ernährung. »Ich habe schon in meinen Zeiten als Fondsmanager mehr und mehr darauf geachtet, was meinem Körper guttut, und begonnen, sukzessive meinen Fleischkonsum zu verringern, bis ich mich letztlich ausschließlich vegetarisch ernährt habe«, erklärt Halper im HOGAPAGE-Gespräch. Bei Ivic wiederum war es die Freude an einer neuen großen und spannenden Herausforderung. Zum kompletten Vegetarier reicht es bei Ivic zwar bis heute nicht, aber »die Philosophie des Hippokrates, ›Eure Nahrung sei eure Medizin und eure Medizin eure Nahrung‹, hat mich immer schon fasziniert«. Insofern kam dieses Konzept für Ivic zu dem Zeitpunkt wie gerufen, »auch wenn ich doch ein wenig gezuckt habe, wie man mir gesagt hat, dass nicht mal Fisch auf der Speisekarte erwünscht ist«.

»Fleischkonsum als Sackgasse«

Für Christian Halper indes war die Frage von Anfang an nicht ob, sondern maximal wann ein hochwertiges vegetarisches Restaurant zum Erfolg wird: »Wenn wir unseren Planeten als Lebensgrundlage erhalten wollen, müssen wir den vegetarischen Weg früher oder später gehen. Denn irgendwann geht uns schlicht und ergreifend der Platz aus, den wir benötigen würden, um die stetig wachsende Bewohnerzahl der Erde mit Fleisch zu versorgen.« Zudem hätte sich das Gros der Bevölkerung über Jahrhunderte ebenfalls stark vegetarisch ernährt. Da gab es eben den Sonntagsbraten und den Rest der Woche hauptsächlich vegetarische Kost – wenn auch zumeist weniger aus gesundheitlichen als aus finanziellen Gründen.

Auch nicht besser ist die globale Fisch-Bilanz. »Gerade mal ein Prozent der Kalorienversorgung der Menschheit wird über Fischkonsum erreicht. Und dafür fischen wir die Weltmeere leer. Dann kamen die Aquakulturen mit all den Problemen, die sie verursachen, auf. Das kann es doch nicht sein«, erklärt Halper seine Beweggründe, im TIAN auch keinen Fisch anzubieten. Und überhaupt könne man Fisch auch in vielen anderen Betrieben sehr gut essen. Dafür brauche es das TIAN nicht.

Kein erhobener Zeigefinger

Dabei – und darauf legen Halper und Ivic unisono Wert – will man den Leuten zwar eine alternative ­Ernährungsform zeigen, aber keinesfalls verkrampft missionieren. Vegetarische oder sogar vegane Ernährung soll Genuss bereiten, Spaß machen und kein Zwang sein, lautet ihr Credo. Dazu gehört etwa auch, dass man zwar jedes Menü mit einer in Österreich wahrscheinlich einzigartigen alkoholfreien Getränkefolge begleiten kann, aber natürlich lässt auch die Weinauswahl im TIAN keine Wünsche übrig. Diese Philosophie schlägt sich auch in der Gästestruktur nieder. Wer fürchtet, dass sich hier sektiererische ­Berufsveganer ein Stelldichein geben, liegt weit daneben. »90 Prozent unserer Gäste sind ganz normale Fleischesser, acht Prozent Vegetarier und vielleicht zwei Prozent Veganer«, schätzt Ivic. Aber natürlich könne man auf Wunsch die ­gesamte zehngängige Speisenfolge auch ­vegan bekommen. Ivic: »Kein Gast soll bei uns auf irgendwas verzichten müssen.«

Mehr Kommunikation mit dem Gast

Ein Element, das das TIAN doch deutlich von anderen Restaurants unterscheidet, ist die Kommunikation mit dem Gast. ­Einerseits, weil sich das Publikum hier – nicht wirklich überraschend – überdurchschnittlich für das Thema Ernährung interessiert, und andererseits, weil halt Gerichte wie Karfiol/Blumenkohl (Pom-Pom blanc / Sanddorn) oder Bean to Bar (Piura Porcelana / Cupuaçu / Kakao) mehr Erklärungsbedarf haben als ein Branzino oder ein Hirschfilet. »Die Zeit am Gast ist bei uns deutlich höher als in anderen Lokalen«, so Paul Ivic. Wenn man außerdem dem Gast erklärt, was er da auf dem Teller hat, und – noch wichtiger – er diese Qualität auch schmecken kann, dann ist er auch bereit, für ein vegetarisches Menü den gleichen Preis zu bezahlen, für den er anderenorts diverse Edelteile vom Fleisch oder Fisch serviert bekommt. Und die Leute merken, dass das, was sie essen, ihnen guttut. Allerdings gibt Ivic durchaus zu, dass es bis hierher ein längerer Weg war: »Viele Leute glauben ja, dass Gemüse billig ist. Aber das ist falsch! Fleisch ist heutzutage billig, nicht Gemüse

Restaurant TIAN in Wien
Foto: Ingo Petramer

Schwierige Lieferantensuche

Weil die Produkte, die im TIAN gebraucht werden, in der Vergangenheit aber nicht den großen Boom bei der Nachfrage erlebt haben, war das Angebot speziell anfangs und vor allem in der erforderlichen Qualität eher überschaubar. Ivic: »Gemüse wurde generell etwas stiefmütterlich behandelt von den Bauern. Auch sind äußerliche Qualitätsmerkmale bei Gemüse deutlich schwerer zu erkennen als bei Fleisch oder Fisch. Da kann man echt nur auf den Geschmack schauen.« Mittlerweile habe sich aber zum Glück ein recht gutes Netzwerk gebildet aus Produzenten, aber auch aus anderen Köchen, die entdeckt hätten, was Gemüse für Möglichkeiten bietet. »Da haben wir im TIAN echte Pionierarbeit geleistet«, so Ivic, der seine Produkte hauptsächlich von verschiedenen Bauern bezieht, aber auch von einem großen C&C-Markt und sogar von echten Sammlern, die wie zu Urzeiten durch die Wälder streifen und so spannende Zutaten bringen.

Für Ivic ist also Qualität das Wichtigste und das Arbeiten mit der Natur und ihren Vorgaben. Soll heißen, Spargel gibt es eben im Frühjahr, wenn er bei uns wächst, und nicht im Winter, wo man ihn von der anderen Seite der Erde einfliegen lassen müsste. Außerdem verliere ein Produkt, das ständig verfügbar sei, ohnehin an Reiz. Dabei ist Regionalität nicht unbedingt das Dogma im TIAN. »Was ist denn überhaupt regional, wenn ich in Wien koche? Ist Tirol noch regional oder ist es Ungarn?«, fragt sich Ivic. »Wir haben viele internationale Gäste, und denen wollen wir auch internationale Qualität bieten.« So arbeite man etwa mit einigen italienischen Produzenten zusammen, die man persönlich kenne und bei denen man wisse, dass sie hervorragende Qualität liefern. Zu denen gehört z. B. auch Paolo Parisi, der seine Hühner ausschließlich mit besonderen Körnern und mit frischer Ziegenmilch füttert und dessen legendäre Eier im Einkauf 2,50 Euro/Stück kosten. Die besten Eier, die es gibt eben. Zurück zum Ursprung also in seiner reinsten Form. Den Leuten wieder bewusst machen, dass Leben und auch ­Lebensmittel etwas wert sind.

Legere Zweitlinie

Weil aber Christian Halper ein Mann mit Visionen ist, war auch bald klar, dass die Idee einer hochqualitativen, kreativen vegetarischen Ernährung ausbaubar ist, und so stehen heute in Wien bereits zwei Bis­tros, in denen die TIAN-Idee in der Art der österreichischen Wirtshaustradition neu interpretiert wird. In den Bistros wird im Unterschied zum Restaurant auch ein Frühstück als »Sharing Breakfast« angeboten, bei dem vom Brot über Aufstriche bis zu warmen Gerichten alles in die ­Mitte des Tisches gestellt wird, um es mit ­Familie oder Freunden zu teilen. »Das Schönste ist für uns, wenn wir sehen, wie gut die Gesamtstimmung ist, wie sich die Leute dabei wohlfühlen und auch die größten Morgenmuffel lachen. Natürlich gibt es welche, die skeptisch sind und sagen: ›Ein Frühstück ohne Wurst oder Schinken geht nicht.‹ Aber auch die lassen sich überzeugen, auch denen geht dort nichts ab. Und wenn manche Gäste um 10 Uhr zum Frühstück kommen und erst nach 18 Uhr wieder nach Hause gehen, machen wir offensichtlich etwas richtig«, freut sich Ivic.

Expansion nach Deutschland

Seit 2014 kocht außerdem Christoph Mezger, ein ehemaliger Mitarbeiter von Alfons Schubeck, in München in einem zweiten TIAN-Restaurant auf Haubenniveau. Allerdings mit einer völlig eigenständigen vegetarischen Linie, ohne sich an das Wiener Stammhaus anzulehnen. Lediglich das optische Erscheinungsbild der beiden Restaurants ist ähnlich. Und weitere Expansionspläne liegen bereits in der Schublade. »Ich denke, dass speziell bei den Bistros sowohl in Österreicher wie auch in Deutschland noch viel Luft nach oben ist. Ob das jetzt 10 oder 50 oder 100 sein werden, wird sich im Laufe der Zeit zeigen, aber aktuell ist das diesbezügliche Angebot in der Gastronomie jedenfalls viel zu gering«, gibt sich Halper überzeugt. Für Paul Ivic sind die Bistros außerdem eine Möglichkeit, das im Restaurant mühsam erworbene Know-how weiterzuverwerten: »Das ist wie in der Autoindustrie. Eine neue Technik wird auch zuerst für die großen Limousinen entwickelt und findet dann nach und nach auch in den unteren Klassen zu günstigeren Preisen Einzug.« Der Entwicklungsprozess ist jedenfalls noch lange nicht abgeschossen.

»Wer Visionen hat, braucht einen Arzt«

ist ein Spruch, der lustigerweise sowohl einem ehemaligen deutschen wie auch österreichischen Bundeskanzler zugeschrieben wird. »Ganz im Gegenteil«, möchte man entgegnen: Er braucht nur die Überzeugung, das Richtige zu tun.

Kein Gast soll
bei uns auf irgendwas
verzichten müssen

Paul Ivic,Chef de Cuisine TIAN Restaurant Wien

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Der Original-Text aus dem Magazin wurde für die Online-Version evtl. gekürzt bzw. angepasst.
Foto: Ingo Petramer; iStockphoho; Jürgen Hammerschmid;

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