Der Grünkohl im Exklusiv-Interview
Deftige Hausmannskost?
von Sebastian BütowMeine Großmutter hat immer gesagt, dass Sie erst richtig köstlich schmecken, nachdem Sie den ersten Frost abbekommen haben. Stimmt das wirklich?
Jein. In der Tat hieß es immer, dass durch den Frost ein Teil der in mir enthaltenen Stärke in Zucker umgewandelt würde, weshalb ich dann nach den ersten Minusgraden besser schmecke. Man weiß jetzt aber genau, dass Frost, also Minusgrade, und Stärke keine Rolle spielen. Richtig ist, dass eine späte Ernte und kühle Temperaturen mich erst in Hochform bringen. Ich kann aber auch »erfrieren« – allzu lange sollte man mich nicht bibbern lassen, wenn’s draußen richtig kalt wird.
Vor einigen Jahren litten Sie noch unter einem Ruf als Beilage von deftigen Wurst-Speisen. Mittlerweile sind Sie ein Star in coolen Cafés, weil Grünkohl-Smoothies die Herzen junger Leute höherschlagen lassen.
Ach wissen Sie, alle reden vom sogenannten »Superfood«, also von Chia-Samen, Afa-Algen oder Goji-Beeren und weiß der Teufel was. Die Wahrheit ist: Das ist alles überteuertes, dummes Zeugs. Wenn hier einer Superfood ist, dann bin ich das. Und das wusste schon Ihre Großmutter! Dass ich jetzt wieder »in« bin, fing in den USA an. Die Amis nennen mich »Kale«, das klingt irgendwie cool! Und nicht so bieder wie »Grünkohl«.
Was kann man denn noch Schönes mit Ihnen anstellen außer Smoothies und den klassischen Gerichten?
Knusper-Grünkohl! Zupfen Sie knackige Blätter von mir in kleinen Stücken vom Strunk, gut waschen. Dann vermischen Sie die mit etwas Olivenöl, Zitronensaft, Meersalz und Sesamkörnern. Ab aufs Backblech bei 150 °C. Sie werden staunen. Kartoffelchips haben fertig! (Lacht.) Michelle Obama outete sich kürzlich in einer US-Talkshow als Grünkohlchips-Junkie, das empfinde ich als eine große Ehre.
Gesunde Chips – das klingt verlockend.
Ich bin eines der basischsten Lebensmittel überhaupt. Für ein Gemüse enthalte ich enorm viel Protein, das es mit der Wertigkeit von Fleisch aufnehmen kann, dazu Omega-3-Fettsäuren. Ich entgifte, bin sogar entzündungshemmend. Schon die alten Griechen schwörten auf mich, wenn sie einen Alkoholkater hatten. Hippokrates zum Beispiel kochte eine Brühe aus Grünkohlblättern gegen Magenschmerzen, Durchfall, Husten und Heiserkeit. Im antiken Rom wurde ich so geschätzt, dass Bauern, die beim Anbau auf mich setzten, zu sehr wohlhabenden Leuten wurden.
In einigen norddeutschen Städten wie Bremen und Oldenburg haben Kohlfahrten eine lange Tradition. Was hat es mit diesem Brauch auf sich?
Das kann ziemlich spaßig sein! Früher fuhren wohlhabende Geschäftsleute im Winter mit der Kutsche raus aufs Land, um mich zu feiern und zu genießen. Am Ende des Ausflugs wurde in einem Gasthof geschlemmt und gefeiert. Heute hat der Bollerwagen die Kutsche abgelöst. Aber damals wie heute ist das Ziel des lustigen Wanderausflugs ein Lokal, in dem zum Abschluss ein Grünkohlessen zelebriert wird.
Warum ist der Ausflug so lustig?
Auf dem Weg wird das eine oder andere Schnäpschen vernichtet. Auch jede Menge alberne Spiele gehören immer dazu, wie etwa Kartoffel-Hockey oder Teebeutel-Weitwurf. Der krönende Abschluss ist dann natürlich immer die Wahl zur Kohlkönigin und zum Kohlkönig. Wer gekrönt wird, hat die Ehre, die nächste Kohlfahrt organisieren zu müssen. Sogar unsere Bundeskanzler Gerhard Schröder und Angela Merkel hatten schon die Grünkohlkrone auf. Kein Witz! Eine Kohlfahrt ist eben ein bisschen wie die norddeutsche Antwort auf den Karneval – und hier bin ich
der Star!
Grünkohl, wir danken Ihnen für das Gespräch.