Vor der Kruste bis zur Krume
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Von der Kruste bis zur Krume … köstlich!

Die Renaissance der Brotkultur in Deutschland

von Gabriele Gugetzer
Montag, 05.09.2016
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Die größte kulinarische Versuchung sind für den Zweisterner Wolfgang Becker aus dem gleichnamigen Restaurant in Trier nicht Kaviar & Co. oder ein anderes Luxusprodukt. Es ist gutes Brot. Wobei sich diese Aussage anders bewerten ließe: Ist gutes Brot Luxus? »Bei uns ist das selbst gebackene Brot fast schon ein Alleinstellungsmerkmal«, berichtet Becker aus dem »Becker’s«, »unsere Gäste fragen gezielt danach und nehmen es oft mit nach Hause.«

Billige
Lebensmittel werden nicht geschätzt. Unser Brot schätzen die Gäste

Hubert Ziervogel

Da weiß er was, was auch Heiko Nieder weiß. Beim letztjährigen Sterne-Gipfel in Zürich lud der ebenfalls mit zwei Sternen ausgezeichnete deutsche Meisterkoch vom »Dolder Grand« zum Epicure-Festival alles ein, was in Europa Rang und Namen hat: Silvio Nickol, Christoph Rüffer, ­Davide Scabin, Masanori Tomikawa, Patissier Yann Duytsche, um nur einige zu nennen. Die kochten für ein Publikum, das Geld und Gaumen hat für ­solche Freuden. Die Züricher kamen, schleckerten kundig und zahlten einen Eintritt, der außerhalb der Schweiz ­Tränendrüsen aktiviert hätte. Zum ­Abschluss bekam jeder natürlich eine schicke Goody-Bag zum Mitnehmen überreicht. Und in der war? Mehl. Genauer gesagt, die Heiko-Nieder-Brotmischung zum Selberbacken für zu Hause. Wareneinsatz: winzig. Idee: groß. Wirkung: riesig. Die Tüten für dieses Jahr sind schon gedruckt.

Heiko Nieder
Heiko Nieder, Meisterkoch
des »Dolder Grand«, weiß
um den Wert eines selbst
gebackenen Brotes.
Foto: The Dolder Grand /
Heinz Unger

Gutes Brot ist eine zauberhafte Sache

Der »Breidenbacher Hof« in Düsseldorf gehört zu den Traditionsadressen der Stadt. In der »Lobby Lounge« serviert das Team um Küchenchef Philipp Ferber einen After­noon Tea, in der Brasserie »1806« gehobene Küche, Steaks, Meeresfrüchte. Mit zwei Broten hat man sich in der Stadt einen ­Signature-Status erarbeitet, dem Krustenknirps aus der Brasserie – »den kaufen die Gäste dann zusätzlich zum Mitnehmen«. Und den Müslistangen, die – Körnern, Nüssen und Trockenfrüchten sei Dank – ins Superfood-Konzept der »Lobby Lounge« passen. Ferber erklärt: »Das Brot muss zum Rest passen, das liefert den stimmigen Gesamteindruck, den der Gast mitnimmt.«

Das Wichtigste: »Wir beziehen unsere ­Brote vor Ort von der Bäckerei Frank Hoffmann. Die macht diese zwei Brotsorten exklusiv für das Hotel – und zwar von Hand, nicht mit der Maschine.«

Gäste nehmen Brot auch gerne mit

Die Mitnahme-Regel bestätigen übrigens immer mehr Gastronomen, nicht nur im gehobenen Bereich. Hubert Ziervogel führt ein einfaches, urgemütliches Haus, das »Hotelchen Döllacher Dorfwirtshaus« ­unterhalb des Großglockners. Die Klientel ist gemischt, Wanderer, Familien, Biker. Sie schätzen die Geselligkeit der steinalten Wirtsstube, die sehr gute Hausmannskost. Und das Frühstück.

Katja und Hubert Ziervogel
Katja und Hubert Ziervogel führen das
»Hotelchen Döllacher Dorfwirtshaus«.
Foto: Döllacher Dorfwirtshaus

Ziervogels Nachbar ist nämlich Bäcker. Das ist einerseits praktisch, andererseits ist Bäckerfamilie Schober schon so lange dabei, dass sie das Brot für die Erstbesteigung des Großglockners im Jahr 1800 buk. Das Originalrezept wurde wiedergefunden und wird heute täglich frisch auf Steinplatten gebacken. Damals kostete der Brotvorrat für die gesamte Expedition astronomische 49 Gulden. Dafür war das Expeditionsbrot lange haltbar und gab Kraft für den langen, mühsamen, gefährlichen Aufstieg.

Hubert Ziervogels Gäste bekommen es jeden Morgen aufgetischt, und, sagt Hubert Ziervogel, »natürlich merken sie den Unterschied zwischen TK-Ware und natürlichem Sauerteig. Sehr viele Gäste nehmen das Brot auch ...«, na, den Rest wissen Sie ja schon. Sie nehmen das Brot mit als Erinnerung. An den Urlaub. An das supernette Hotel und den immer freundlichen Wirt. Natürlich ist das Brot von nebenan für Ziervogel in der Kalkulation teurer als Billigsemmeln aus Polen, aber er weiß: »Billige Lebensmittel werden nicht geschätzt. Unser Brot schätzen die Gäste.« Gäste­bindung für ein paar Euro – das ist wirklich unbezahlbar.

Mit Sauerteig zu arbeiten, erfordert Gefühl

Auch in der Vier-Sterne-Hotellerie des Landes ist Brot angekommen. Familie Krainer serviert im angeschlossenen ­Restaurant ihres gleichnamigen Hotels neue steierische Küche und gehört zu den Jeunes Restaurateurs. »Ich wollte so viel wie möglich selbst machen«, erklärt Andreas Krainer, wie’s zum selbst gebackenen Brot kam. »Und mit Brot fängt halt alles an.«

Die Faustregel, dass man den Patissier von dummen Gedanken abhält, indem man ihn vor dem Service Brot backen lässt, kann Krainer nur bis zu einem gewissen Grad unterschreiben: »Mit Sauerteig zu arbeiten, erfordert Gefühl und ein wenig Erfahrung. Ein Rezept abarbeiten, das klappt da nicht immer.«

Wie machen das Hotels?

Das Badhotel Sternhagen wirbt mit dem Slogan »Wo die Nordsee ins Hotel mündet« und betreibt zwei Restaurants. Der junge Zweisterner Marc Rennhack kocht im »Sterneck« gleich nebenan von Thomas Hildebrandt, der im Restaurant »Schaarhörn« die Arrangement-Gäste bedient. Beides klappt auf höchstem Niveau. Hildebrandt legt auf Brot schon mal deshalb Wert, weil er selbst Bäcker gelernt hat, sich von Zuckercouleur & Co. mit Grausen abwendet und das »original norddeutsche Schwarzbrot« – passt ideal zu Matjes und Rauchfisch – nur mit Roggenschrot und Sauerteig macht. Das Nussbrot, verrät er, stammt von einem Geheim­rezept der Hotel-Namensgeberin Helga Sternhagen und wird von ­einem regionalen Bäcker exklusiv fürs »Schaarhörn« gebacken. Der Aufwand hält sich in Grenzen, die Geschichte lässt sich erzählen, die Regionalität ist gegeben.

Rennhack interessiert was anderes. Patissière und Meisterin Dorte Rabeler muss ran, »nach hauseigenen ­Rezepten« gibt’s neben Ciabatta und Brioche auch eine Spezialität, das Schokoladenbrot. Alle anderen Brote backt ihm Arndt Ebel in Dachsbach (»viel teurer als normales Brot, aber es ist alles Natur«). Und, Sie wissen es ja mittlerweile, die exklusiven Stern­eck-Pralinen, so Rennhack, »nehmen Gäste gerne mit nach Hause«.

Brot symbolisiert Gastlichkeit

Gut, aber warum der ganze Stress bloß um einen Brotkorb? Für Krainer ganz der ­falsche Gedankenansatz: »Brot ist ein Symbol für Gastfreundschaft. Es verbindet eine Tischrunde, man teilt sich einen Korb voll Brot.«

Da ist auch Becker dabei. Gutes handwerklich gemachtes Brot ist »ein wich­tiges Dauerthema«, findet Becker, weniger ein Trendthema. Seine Brigade backt denn auch keine Modebrote wie Fougasse oder fünf Tage lang geführten Sauerteig, sondern Ciabatta und ein sehr dunkles Krustenbrot. »Das Gefährliche an Trends ist, dass sie dann auch schnell wieder vorbei sind.« Da das »Becker’s« kein Riesenladen ist, lässt sich das Ganze gut kalkulieren, pro Service gehen bis zu 30 Brote weg, den Rest vertilgt die Brigade.

Getreide und Mehl
Foto: iStockphoto

Und was ist mit bio?

Die Krainers beziehen das Mehl vom ­Biomüller. Ganz direkt gefragt: Rechnen sich solche Sperenzchen? »Wir haben uns nie als Erstes gefragt, ob es sich rechnet. Aber tatsächlich tut es das, denn die Gäste schätzen unser Brot und kommen unter anderem auch wegen des Brots zu uns.«

Monika Drax ist so eine Biomüllerin. Genauer gesagt, sie ist eine von zwei Müllermeisterinnen in ganz Deutschland und betreibt, so würde es die Hotellerie charmant formulieren, eine Boutique-Müllerei. Was sie am Tag mahlt, kriegt ein Großbetrieb mühelos in einer Stunde hin. Drax beliefert Endkunden, ihre eigene Bäckerei und Gastronomen in der Region (die Drax-Mühle liegt bei Mühldorf in Oberbayern). Wie kommen die Gastronomen auf sie? »Durch Empfehlung, Neugründung, viele auch durch Umstellung der Küche auf ­regionale Produkte.«

Warum man nicht im Großmarkt kauft, sondern bei ihr? »Wir haben besondere Produkte, wie Urdinkelmehl, Manitoba, Spätzlemehl und alte Getreidesorten.« (Die allgegenwärtigen Superfoods im Körner­bereich, von denen Ferber bereits sprach, hat sie natürlich auch.)

Monika Drax ist überzeugt, dass sich ihr Angebot für beide Seiten rechnet. »Wir
bieten den Kunden einen Mehrwert und ein Umsatzplus. Der Gastronom kann mit ­einem speziell ausgewiesenen Mehl die Wertigkeit seiner Küche steigern. «Auch praktisch: Die Transportwege sind kurz, denn Drax liefert wie andere Mini-Müller selbst aus.

Schlusswort: »Unser täglich Brot gib uns heute« ist eine Ansage, die im einstigen Billigbrotland Deutschland zunehmend aktueller wird.

Spezielle Bedürfnisse? Ja! Verzicht? Nein, danke!

Gluten- und laktosefreies Gebäck ist stark im Kommen, denn immer mehr Deutsche leiden an Zöliakie und oder an Lactoseunverträglichkeit. Tendenz in beiden Gruppen steigend. Handwerksbäcker wie Industrie stellen sich auf diese wachsenden Zielgruppen ein und bieten mittlerweile ein sehr abwechslungsreiches Sortiment von gluten- und laktosefreien Backwaren.

Aber nicht nur die Nachfrage nach Produkten ohne Weizen steigt, auch Gebäck mit speziellem Mehrwert ist stark im Kommen: Produkte mit besonders hohem Eiweißgehalt oder mit cholesterinsenkenden Eigenschaften sind trendig.

Wie überall ist das Thema Ernährungskompetenz und Lebensmittelallergien also auch beim Gebäck sehr präsent. Das Brotkörbchen ist vielerorts zur Wissenschaft geworden.

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