Keine Wahl und keine Qual?
Immer mehr Gastronomen verbannen die Speisekarte aus ihrem Betrieb
von Clemens KriegelsteinSpeisekarten sind die Visitenkarte eines Restaurants: Sie können klein und vielleicht handgeschrieben sein, wobei zumindest Ersteres tendenziell auf frische Produkte und selbstgemachte Speisen hindeutet. Oder sie haben Telefonbuch-Ausmaße und bieten vom Hamburger über Pasta und Schnitzel bis zu Sushi alles an, worauf ein potenzieller Gast Lust haben könnte – was in den meisten Fällen eher als Warnung zu verstehen ist. Und dann gibt es noch eine dritte Gruppe von Gastronomen: Die haben gleich gar keine Speisekarte, sondern nur ein einziges, fixes Menü, bei dem man im Extremfall noch nicht mal bei der Bestellung weiß, was auf einen zukommt. Auch eine Art von Erlebnisgastronomie.
Einer der Ersten im deutschen Sprachraum, der das Konzept ohne Speisekarte durchgezogen hat und damit bis heute erfolgreich ist, ist Gottfried Wallisch vom Restaurant Broeding in München. »Das Lokal gibt es seit 1990, und seit damals setzen wir auf dieses Konzept«, verrät Wallisch im Gespräch mit HOGAPAGE. München war zu diesem Zeitpunkt gastronomisch schwer im Italo-Fieber. Dem wollte man mit einer unkonventionellen Idee etwas entgegensetzen. Das Ergebnis dieser Überlegung war dann eben ein Restaurant mit einem umfangreichen, allerdings fast ausschließlich österreichischen Weinangebot, aber vor allem ein Restaurant ohne klassische Speisekarte, lediglich mit einem täglich wechselnden mehrgängigen Menü. Wallisch: »Es soll sein, wie wenn man zu Freunden nach Hause kommt. Da gibt es etwas zu essen, ohne große Auswahl, aber hoffentlich von toller Qualität. So soll es auch bei uns sein. Wir möchten, dass uns die Leute vertrauen, dass die Gerichte, egal was es gibt, gut sind.« Klar, dass so ein Konzept anfangs belächelt wurde und manche Kritiker dieser Idee nur geringe Überlebenschancen gaben. »Heute gibt es uns aber immer noch«, lacht Wallisch mit einer gewissen Zufriedenheit.
»Lasse mir nicht vorschreiben, was ich essen soll«
Die Reaktionen der Gäste waren speziell anfangs trotzdem geteilt. Journalisten, diverse Künstler und die eher weltoffenen Leute waren begeistert. Aber es gab natürlich auch die Kommentare im Stil von »Ich lasse mir doch von Ihnen nicht vorschreiben, was ich essen soll!«. Da sei man allerdings immer hart geblieben und habe diese Gäste darauf hingewiesen, dass das eben das spezielle Konzept dieses Restaurants sei, dass es in der Umgebung zahlreiche klassische Lokale mit Speisekarte gäbe. Take it or leave it! Das Konzept würde so funktionieren wie gedacht, oder eben nicht. Ein Aufweichen kam für Wallisch nie in Frage.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Natürlich nimmt man im Broeding auf diverse Allergien, Unverträglichkeiten und andere aktuell grassierende »Wohlstandsbefindlichkeiten«, wie es Wallisch ausdrückt, ebenso Rücksicht, wie wenn ein Gast etwa generell keinen Fisch isst. Und wenn jemand mal statt des offiziellen Fünf- oder Sechs-Gänge-Menüs (zu 79 bzw. 86 Euro) nur ein oder zwei Gänge essen möchte, zeigt man sich auch flexibel. Aber sonstige Sonderwünsche im Stil von »Könnt ihr mir kein Schnitzel machen?« bleiben schon mangels vorhandener Grundprodukte unerfüllt. Wallisch: »Ich bin sehr stolz darauf, dass wir inzwischen viele Gäste haben, die mir z.B. sagen: Wissen Sie, Innereien esse ich ja sonst eigentlich nicht so gerne, aber bei Ihnen traue ich mich drüber, weil ich weiß, dass es gut gemacht ist.«
Ein weiterer Vorteil dieses Konzeptes ist die bessere Kostenkalkulation. Klar, wenn man nicht nur weiß, wie viele Gäste morgen kommen, sondern auch, was sie essen, erleichtert das den Einkauf beträchtlich und man muss weniger wegwerfen. »Auch das ist uns wichtig, aus Respekt vor dem Lebensmittel. So können wir auch immer frisch arbeiten und müssen nicht auf
TK-Ware zurückgreifen«, so Wallisch.
Gäste aus der Komfortzone holen
Ein Wiener Pionier, der seine Gäste seit annähernd drei Jahren ohne Speisekarten verwöhnt, ist Wolfgang Zankl vom Restaurant »Pramerl and the Wolf«. Im Dezember 2015 hat der Spätberufene (»Ich habe mit 34 Jahren die Berufsschule gemacht, um kochen zu lernen. Meine halb so alten Klassenkollegen haben mich angeschaut wie ein Alien.«) in der Wiener Pramergasse – daher der Name – ein Uralt-Beisl übernommen und dort auch optisch nur das Notwendigste renoviert.
Von Anfang an hatte Zankl die Idee einer »Bistronomie«, also wie in Frankreich ein legeres Bistro mit gehobener Gastronomie. »Seit damals können die Gäste nur die Anzahl der Gänge bestimmen (fünf, sechs oder sieben) und sagen, ob sie Allergien oder Unverträglichkeiten haben oder bestimmte Produkte einfach nicht mögen. »Wobei ich diese Dinge in der Regel schon am Tag vorher, wenn ich die Tischreservierungen rückbestätige, am Telefon abzuklären versuche«, erzählt Zankl. Auf den Gedanken zu dem Konzept kam er recht unspektakulär: »Ich habe mich einfach gefragt, was mich selber als Gast interessieren würde. Und ich möchte den Leuten etwas Neues zeigen, sie fordern und ein wenig aus ihrer Komfortzone holen.« Gerade der Wiener Gast würde sonst oft dazu neigen, sich irgendwo in dem ebenso bekannten wie bewährten Umkreis von Beef Tatar, Pasta mit Garnelen oder Backhendl zu bewegen.
Die Gäste haben sich inzwischen jedenfalls daran gewöhnt, viele kommen extra deswegen zu ihm, freuen sich auf das volle Programm und lassen sich sieben Mal überraschen. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn die einzelnen Menüpunkte erfährt man nicht mal bei der Bestellung. Erst wenn ein Gang serviert wird, gibt’s die Erklärung dazu. Zankl: »Soweit es geht, versuchen wir zwar schon auf Sonderwünsche Rücksicht zu nehmen, aber wenn einer sagt, er mag kein Fleisch, keinen Fisch und dieses oder jenes Gemüse auch nicht, dann kann ich ihm nur mehr unser hausgemachtes Brot anbieten«, erklärt Zankl die Grenzen des Konzeptes.
Kein unnötiges Chichi
Etwa ein bis zwei Gänge des Menüs werden dabei wöchentlich neu gestaltet. Dass diese Form der Gastronomie auch seine Kalkulation oder den Einkauf erleichtert, er am Ende des Tages kaum Lebensmittel wegwerfen muss, ist für Zankl ein weiterer Pluspunkt, der ins Konzept passt: »Auch das ist ein finanzieller Vorteil, den ich an den Kunden weitergeben kann. So wie ich generell versuche, alles Unnötige, alles Chichi wegzulassen, das der Gast zwar letztlich bezahlen muss, das ihm aber für den Genuss nichts bringt.« 77 Euro für sieben Gänge sind entsprechend ein ziemlicher Kampfpreis. Kritikern wie Gästen gefällt diese Form von »Bistronomie« aber offensichtlich. Zwei Gault&Millau-Hauben, ein Michelin-Stern und ein annähernd täglich ausgebuchtes Lokal sind der erfreuliche Lohn.
Hinsetzen, entspannen, fertig
Eine Stufe noch darüber zeigt Markus Mraz in seinem Wiener Restaurant »Mraz & Sohn«, wie »Essen ohne Karte« geht. Und das immerhin auch schon seit bald vier Jahren. Damals wollte der Spitzenkoch (drei Gault&Millau-Hauben, zwei Michelin-Sterne) den Leuten die Entscheidung abnehmen, sich zu überlegen, ob sie lieber das Menü oder à la carte essen wollten (und falls Letzteres, was davon), und verbannte die Speisekarte aus seinem Betrieb. »Ich wollte, dass die Leute sich hinsetzen, den Alltag vergessen und entspannen können und wir uns um den Rest kümmern.« Fortan blieb dem Gast nur mehr die Wahl zwischen vier, sechs oder neun Gängen, die auf der Menükarte maximal kryptisch beschrieben waren (»Die Misbeln wisbeln Pastrami«).
Inzwischen ist Mraz noch einen Schritt weiter gegangen, hat sich auch von den »kleinen« Menüs verabschiedet und bietet nur mehr die komplette Reise durch die Mraz’sche Genusswelt an. Dem Gast bleibt somit quasi nur mehr die Wahl, am Abend zum Mraz zu gehen oder nicht. »Durch die unterschiedlichen Menüfolgen hatten wir immer wieder Anfragen, warum ein bestimmter Gang nur am Nebentisch serviert wird, nicht aber am eigenen. Das können wir jetzt vermeiden, jetzt bekommt jeder Gast die gleiche Geschichte erzählt«, erklärt »Sohn« und Restaurantleiter Manuel Mraz die Intention dahinter. Auch er bestätigt wenig überraschend, dass dieses Konzept ein großer Vorteil bei Einkauf und Kalkulation ist.
Die Leute
kommen und lassen sich fallen, und genau das war unser Plan
Umso erstaunlicher fast, dass es auch niemals ernsthafte Probleme mit den Gästen gegeben hat. »Ich kann mich nicht mal erinnern, dass in den letzten Jahren auch nur ein Gast vorab wissen wollte, was er genau zu essen bekommt«, freut sich Mraz jr. »Die Leute kommen und lassen sich fallen, und genau das war unser Plan.« Auch Reklamationen, wenn mal ein Gericht nicht gemundet hat, kämen nur höchst selten vor. Klar versucht auch das Mraz-Team dabei, Sonderwünschen so weit wie möglich entgegenzukommen, und wenn ein Gast ausnahmsweise nur Lust auf zwei oder drei kleine Gänge hat, wird man auch eine Lösung finden.
Couvert und Wasser enthalten
Dass die Idee, ausschließlich ein großes Menü und sonst nichts mehr anzubieten, dem Umsatz zumindest nicht geschadet hat, bestätigt Manuel Mraz zwar, der Unterschied sei aber nicht wesentlich und auch nicht für die Entscheidung ausschlaggebend gewesen. Zumal jetzt im Menüpreis auch Couvert und Wasser enthalten seien. Tische, bei denen sich alleine der Mineralwasserkonsum mit einer dreistelligen Position auf der Rechnung niedergeschlagen habe, gäbe es somit auch nicht mehr. Wobei man Markus Mraz ohnehin attestieren muss, mit einem Menüpreis von 140 Euro in der gastronomischen Top-Liga schon beinahe als Schnäppchen durchzugehen. »Für uns war die Idee, die klassische Speisekarte zu verbannen und auf ein fixes Menü zu setzen, jedenfalls perfekt, wir haben es nicht bereut«, lautet Manuel Mraz’ Resümee.
Dass die Idee, seinen Gästen die kulinarische Entscheidung abzunehmen und selbst
zu bestimmen, was auf den Teller kommt, etwas Mut verlangt, versteht sich von selbst. Bislang trauen sich auch ausschließlich Vertreter der gehobenen Gastronomie an dieses Konzept. Nicht ganz unlogisch. Wobei: Ein Wirtshaus, in dem es jeweils nur eine Vor-, Haupt- und Nachspeise gibt, die dafür in perfekter Qualität, hätte vielleicht auch einen gewissen Charme.