Geisterküchen – Ghost Kitchens
Was dahintersteckt und welches Potenzial sie bergen
von Gabriele GugetzerGhost Kitchen, Dark Kitchen, Cloud Kitchen ... drei cool klingende Begriffe, die alle mehr oder weniger das Gleiche meinen. Der Koch ist gar nicht gelernter Koch, sondern bereitet, ein bisschen wie »Malen nach Zahlen«, Gerichte nach präzisen, visuell präsentierten Vorgaben vor. Sie wiederum werden ausgeliefert, was schnell gehen muss und nicht zulasten der Optik und Konsistenz (matschige Pasta, kalte Pizza). Es geht also nicht um Präzisionsarbeit, nicht um getürmte und geträufelte Sterneküche. Gleichwohl soll es schmecken. Mit dem klassischen Bringdienst hat das nicht mehr viel zu tun, denn auch trendige Begriffe wie kulturelle Aneignung oder pflanzenbasierte Ernährung werden bedient.
Corona war ein echter Booster
Schon vor fünf, sechs Jahren hatten sich auch in Deutschland erste Food-Unternehmen entwickelt, die auf die Qualität von Gerichten größeren Wert legten als die herkömmlichen Lieferdienste. Als Corona zuschlug, wirkte sich das wenig überraschend wie ein Booster aus, bestätigt beispielsweise Katrin Wertz, die Content Managerin vom Hamburger Unternehmen Eatclever. Eatclever wurde 2015 als klassisches Start-up gegründet und kam während der Pandemie richtig in Fahrt. Nicht nur, weil der Einzelne in seinem Homeoffice nach anfänglich aufwendiger Küchenwerkelei dann viel weniger Zeit zum Kochen fand, als er gedacht hatte. Auch die herkömmliche Gastronomie war auf Ghost Kitchens aufmerksam geworden.
Die Experten des Beratungsunternehmens F&B Heroes sehen hier echtes Potenzial für die Gastronomie: »Ghost Kitchens bieten der Gastronomie und weiteren Food-Unternehmen, beispielsweise in der Gemeinschaftsverpflegung, die Möglichkeit, neue Gästegruppen zu adressieren und (pandemiebedingte) Volatilitäten im Absatz abzumildern«, erklärt Antje de Vries, früher in der Versuchsküche von Deutsche See, mittlerweile Buchautorin (»Bali – Essen mit den Göttern«) und ein Teil der F&B Heroes.
Die ganze Welt in einer Küche
Für das Berliner Unternehmen Chefly bieten »Ghost Kitchens ein multiples Angebot im Vergleich zu klassischen Restaurants«, sagt Ariane Wilke. Sie war Chefpatissière in Fünfsternehotels und hat Logistikmanagement studiert. Und betont, dass im Ghost-Kitchen-Land in einem definierten regionalen Umkreis fehlende Gastronomien unmittelbar ansiedelbar seien und zwar mit den Vorgaben, ein variantenreiches Produkt anzubieten und dieses qualitätsgesichert zu produzieren. Aktuell verwaltet Chefly rund 20 digitale Restaurants, wie es im Firmensprech heißt, und plant für 2022 den bundesweiten Rollout.
»Premium Food aus der ganzen Welt« ist der Slogan, der unter mehreren selbsterklärenden Küchennamen propagiert wird, Spyces, fresh’s, Vadolì. Da wird die Pizza im Steinofen gebacken, sind Smoothie Bowls zum Frühstück gesetzt und die Sandwiches rund, nämlich Falafeln entlehnt. Der Vegetarian Butcher spielt eine Rolle bei den Zutaten – hinter dem Unternehmen steckt der strategische Partner Unilever Food Solutions.
Auch Eatclever setzt mit seinem englisch formulierten Angebot auf die zeitgemäßen Darlings zwischen Curry, Bowl und Wrap, arbeitet mit Tofu, Mango, Avocado und Udon-Nudeln.
Nur mit einem Produkt am Start
Das Gegenteil geht auch. Bei Kookydogs in Nürnberg sind nur Hot Dogs am Start, auf die sich das Unternehmen spezialisiert hat. Zwischen internationalen Aromen und regionalen Zutaten wird zubereitet, bis zu 4,5 Kilometer weit wird ausgefahren, Abholung geht auch.
Ein ganzes Business auf Knödeln aufbauen? In Österreich macht das Werner Dilly. Er ist gelernter Koch und hat Convenience-Erfahrung als Produktentwickler. Gedreht und verpackt wird von Hand mit sechs Mitarbeitern. »Nächstes Jahr
18 Sorten Knödel:
Eine solche Bandbreite kommt auf Almhütten und in Haubenrestaurants an, bei Otto Gourmet und Qualitalia.
wollen wir die Marke von einer Million handgedrehter Knödel knacken«, erklärt er. Dafür beginnt sein Arbeitstag mit dem Teigrichten um 4.30 Uhr. Produziert wird bis zum Mittag, dann wird ausgefahren. Regional muss es natürlich auch hier sein, Grammelspeck-Knödel sind der Favorit, auch sechs Veggie-Sorten bietet er an. Er sieht sich als Unterstützer der Gastronomie. »Eines der größten Probleme der Zukunft wird sein, fachlich geschulte Mitarbeiter zu finden. Da kommen Kleinproduzenten und Manufakturen wie ich ins Spiel. Wir bieten der Gastronomie hochwertige Convenience ... das Von-HandGemachte glaubt jeder Gast.«
Ghost Kitchens und Roboter
Die F&B Heroes haben sich den Pflanzen verschrieben. »Gutes, pflanzenbasiertes Essen mit gastronomischer Kompetenz«, so Antje de Vries, »kann einen nachhaltigen Einfluss auf die Ernährung der Gesellschaft und das Wohl der Umwelt haben. Um viele Menschen zu erreichen, suchen wir nach neuen Wegen.«
Und die haben nicht mit Verzicht, sondern mit Robotern zu tun. Das US-amerikanische Fachmagazin »Spoon« zitierte unlängst den Restaurant-Startup-CEO Adam Brotman, der 2019 verkündete, wäre er heute jung und wolle ins Restaurantgeschäft einsteigen, würde er eine Ghost Kitchen konzipieren, die mithilfe von Robotern produziert. Im IT-Tüftlerland Israel ist längst Beastro am Start, im Look an eine Art Kiosk erinnernd, in der Aufgabe eine vollfunktionsfähige Küche, die um 45 Gerichte pro Stunde fabriziert, zwischen Italien und Asien, zwischen Suppen, Salaten und anderen Gerichten. Aktuell wird für den internationalen Ghost-Kitchen-Markt bis 2030 ein Umsatz von 886.580.000.000,00 Euro (auf English 1 trillion) prognostiziert ...
Oder in den Worten von F&B Heroes: »Von der Entwicklung pflanzenbasierter Cloud Brands mit zugehörigem Content über den Aufbau von digitalen und logistischen Infrastrukturen und Shared-Economy-Ansätzen bis zur Partnerschaft mit einem Robotic-Unternehmen sind wir in vielen spannenden Themen aktiv.«
Kulturelle Aneignung und cultural fit
Ja, das Essen ist politisch geworden, die Gastronomen wissen das. Darf ein Deutscher vietnamesisch kochen, darf ein Italiener Falafel braten, darf ein Rumäne sich in italienischer Küche verwirklichen – ist das denn dann echt? Nun, in Ghost Kitchens stellt sich diese Frage nicht. Wer hier arbeitet, ist nicht in seinem Ursprungsland gelernter Koch, sondern weiß, wie sein Gericht aussehen und wie es schmecken soll. Vorgegeben hat das nicht die eigene Großmutter, sondern die Entwickler. Antje de Vries von F&B Heroes dreht den Spieß sogar um: »Ist eine Küche nicht genau dann authentisch, wenn in ihr von Herzen und mit gewissenhaft ausgewählten Zutaten gekocht wird?«
Das Thema Kultur bzw. Sozialisation spielt später bei der Auslieferung eine Rolle, erklärt Ariane Wilke. »Auslieferung ist der letzte Schritt in der Wertschöpfungskette und damit als zweiter Kontaktpunkt sehr wichtig. Wir vergüten im Durchschnitt signifikant über dem Branchendurchschnitt. Alle Bewerber durchlaufen einen Trial und je nach Position auch einen Persönlichkeitstest, um den cultural fit sicher zu stellen.
»Wir möchten die Küche entgeistern, also transparent machen«
Aktuell sieht sich die Ghost-Kitchen-Branche hierzulande nicht als Konkurrenz zum traditionellen Restaurantbusiness, sondern will sich als Partner positionieren. Und dass eine Reise auch mal zum Ausgangspunkt zurückführen kann, beweist aktuell der Bringdienst Good Vegan, über den wir bereits in unserem Schwerpunktthema Fleischersatzprodukte (Ausgabe 6/21) berichtet hatten. Der wird ab 2022 zusätzlich zum Lieferservice ein Deli und einen Restaurantbetrieb aufnehmen.