Tokio-Unfassbar gut
von Wolf DemarTempura, Sukiyaki, Yakitori und Nudeln (Udon oder Soba) findet man in Tokio an jeder Ecke und zu fast jeder Uhrzeit. Und doch stellt der Besuch eines der zahlreichen einfachen Izakaya-Lokalen den sprachlich unbedarften Europäer vor große Hürden. Am ehesten kann man Izakayas mit urigen Kneipen vergleichen, wo sich die Japaner nach der Arbeit treffen. Das kulinarische Angebot unterscheidet sich von Lokal zu Lokal, doch fast immer sind auch die knusprigen Yakitori-Spieße vom Robata-Grill dabei. Englisch spricht hier fast niemand. Die Locals trinken, snacken und lachen – doch als Ausländer sitzt man vor einer unentschlüsselbaren Karte mit seltsamen Schriftzeichen und tut sich sogar bei einer einfachen Bierbestellung schwer. Die Japaner sind zwar generell sehr höfliche und hilfsbereite Menschen, doch auf Touristen ist man in den meisten Izakayas einfach nicht vorbereitet. Ebenfalls authentisch und relativ günstig kann man in den Food Courts der zahlreichen Shoppingmalls essen. Die Qualität des Essens ist auch hier bemerkenswert, nur ist die Atmosphäre etwas steriler.
Schnitzel made in Japan
Sushi-Lokale sind bei Weitem nicht so populär, wie man sich das als Europäer vorstellt und das berühmte Kobe Beef ist auch in Tokio eine echte Rarität. Schmecken tut in dieser Stadt fast alles, wenn man die richtigen Plätze findet. Selbst Wiener Schnitzel gibt es hier – und zwar ganz traditionell. Das japanische Schnitzel heißt Tonkatsu und stammt vom Schwein. Für die Panade werden Reismehl und Reisflocken genommen und statt Kartoffelsalat serviert man dazu Reis und Misosuppe. In der Billigversion findet man es in vielen Bento-Boxen, die von Japanern auf dem Weg zur Arbeit für die Mittagspause gekauft werden. Es gibt jedoch auch ausgesprochene Tonkatsu-Restaurants, wo man aus bis zu einem Dutzend unterschiedlichen Schweinerassen – alle mit spezieller Herkunftsgarantie – wählen kann. Je nach Fettgehalt variiert die Dicke der Schnitzel, die in Scheiben geschnitten angerichtet werden, damit man sie mit Stäbchen essen kann.
Ein Grund, wieso es in japanischen Restaurants so gut schmeckt, hat mit deren absoluter Spezialisierung auf ein Produkt oder eine Technik zu tun. In einem Tepanaki-Lokal wird gegrillt. Basta! In einer Sushibar gibt es Sushi und Sashimi – Ende! In einem Tempura-Lokal wird in Perfektion frittiert. Aus! In einem Ramen- oder Udon-Lokal gibt es Nudeln und sonst nichts. Mit diesem eingeschränkten Angebot kann garantiert werden, dass immer alles frisch und in höchster Qualität angeboten wird. Man entscheidet also vor dem Restaurantbesuch, was man essen will.
Bento-Boxen, Streetfood, Snacks
Die wenigsten Bewohner Tokios kochen regelmäßig daheim – die Wohnungen sind klein, die Arbeitszeiten und Arbeitswege oft lang. Das heißt aber nicht, dass sich rund zehn Millionen Einwohner der Stadt ausschließlich in Restaurants ernähren. An allen Bahnhöfen und größeren U-Bahnstationen gibt es Shops, in denen man Bento-Boxen bekommt. In Supermärkten zeigen sich auch die Obstabteilungen extrem verlockend – aber Vorsicht! Hier findet man Birnen, die pro Stück über 50 Euro kosten und eckige Wassermelonen für weit mehr als 100 Euro. Weniger gut, aber dafür bunt verpackt, sind die Instant-Nudelgerichte, die mit heißem Wasser und ein bisschen Gemüse im Büro zur Suppe werden. Fastfood-Lokale – darunter auch US-Burgerbuden – »bereichern« mittlerweile ebenfalls das Straßenbild Tokios, wenn auch in bescheidenem Ausmaß.
Vor allem auf den Märkten gibt es auch verführerische Köstlichkeiten »to go«, von frischem Sashimi über frittiertes Fleisch bis zu schockgefrorenem Obst. Zumindest zu Redaktionsschluss war auch der berühmte Fischmarkt noch in Betrieb, dessen Übersiedlung an einen moderneren Standort eigentlich schon vor rund zwei Jahren erfolgen hätte sollen. Dort gibt es zahlreiche – nur scheinbar einfache – Sushibars sowie einen lebendigen Markt für Lebensmittel, der auch nach der Übersiedlung weiter bestehen wird.
Getränke kaufen die Japaner – auch in heißer Form – oft am Automaten. Aber Achtung: Hat man einmal aufgegessen oder ausgetrunken, muss man erst einmal einen Ort finden, wo man die Verpackung entsorgen kann. Müllkübel sind absolute Mangelware und trotzdem (oder gerade deshalb?) ist die Stadt blitzsauber. Denn Müll einfach zurückzulassen, gilt hier fast als Kapitalverbrechen, das praktisch nur von Ausländern begangen wird. Als Japaner nimmt man den Müll in seiner Tasche mit nach Hause, um ihn dort zu entsorgen.
Orientierung leicht gemacht
Bei der Lokalsuche in Tokio kann man sich auf seinen sechsten Sinn verlassen (geht manchmal gut), sich bei einer langen Schlange hinten anstellen (geht fast immer gut) oder sich auf kompetente Empfehlungen verlassen (die beste Lösung). Hat man keine Bekannte vor Ort, helfen in guten Hotels die Concierges gerne weiter. Mittlerweile bieten auch zahlreiche Websites ganz gute englischsprachige Empfehlungen.
Für ausländische Feinschmecker ist der »Guide Michelin« eine verlässliche Orientierungshilfe, wenngleich er in gedruckter Form nur mehr auf Japanisch erscheint und somit für die meisten Europäer ein Buch mit sieben Siegeln geworden ist. Doch die englischsprachige Online-Version ist kostenfrei. Unter japanischen Köchen und Gastro-Journalisten ist der rote Guide jedoch nicht unumstritten. Zum einen fehlen einige der besten Restaurants, weil diese sich nicht bewerten lassen wollen und ohnehin immer voll sind. Vor allem, wenn es sich um traditionelle japanische Kaiseki-Restaurants mit strengem Zeremoniell handelt, ist man als europäischer Gast ohne japanische Begleitung zumeist ohnehin nicht willkommen. Einige dieser Restaurants verweigern gar Reservierungen aus dem Ausland. Auch gilt die Bewertung der Arbeit anderer mit Noten (oder eben Sternen) in Japan als zutiefst kränkend und unehrenhaft. Dass die Sushibars Saito, Sukiyabashi Jiro Honten und Yoshitaki mit drei Michelin-Sternen bewertet wurden, stieß auf Verwunderung. Auch wenn der Fisch noch so gut und der Schnitt noch so perfekt ist – mit meisterhafter Kochkunst hat Sushi nur wenig zu tun. Insgesamt sind aktuell zwölf Restaurants mit drei Sternen bewertet und auch die Anzahl von 53 Zwei-Sterne-Restaurants ist bemerkenswert.
Relativ leicht und unkompliziert kommt man in den großen Luxushotels wie dem Mandarin Oriental, Grand und Park Hyatt oder Four Seasons zu einem Tisch, denn diese Häuser sind auf westliche Besucher natürlich bestens eingestellt und haben englischsprachige Mitarbeiter. Man ist dort auch als Nicht-Hotelgast willkommen – sofern man rechtzeitig reserviert. Im Gegensatz zu Europa sind die guten Hotelrestaurants auch durchwegs gut besucht.
Zwischen Tradition und Moderne
Das spannende Verhältnis zwischen Gestern und Morgen ist in keiner anderen Stadt so intensiv zu spüren wie in Tokio. Technologisch ist man hier immer auf dem neuesten Stand und internationale Trends finden – oft mit einem japanischen Twist – ihren Niederschlag. Third-Wave-Coffee-Bars gibt es hier genauso wie lässige Craft-Bier-Lokale. Die Barszene ist äußerst lebendig, und japanischer Whisky zählt zu den besten (und teuersten) auf der Welt.
Italienische Pizzerien, deutsche Biergärten und spanische Restaurants bereichern das kulinarische Angebot genauso wie zahlreiche andere asiatische Ethnoküchen. So findet man die besten Dim-Sum-Lokale der Welt wahrscheinlich in Tokio und nicht in China. Und nicht nur die Damen genießen am Nachmittag zum Tee (oder eben Kaffee) süße Torten und verführerische Patisserie in oft überschwänglich bunter Ausführung.
In dieser Stadt kommt man aus dem Staunen einfach nicht heraus. Mitunter fühlt man sich in die Zukunft versetzt (sogar beim Besuch von Toiletten!), dann begegnet einem mitten im dichten Verkehr ein religiöser Umzug mit fröhlichen Gläubigen. Hier gibt es Essen aus dem Automaten und Lokale, bei denen man mit einer App bestellen und im Voraus bezahlen muss, damit es schneller geht – und gleich daneben wird ein Tee-Zeremoniell wie vor Hunderten von Jahren abgehalten. Es gibt weltweit keine andere Stadt, wo man an so vielen Orten so viele unterschiedliche Dinge in einer derart hohen Qualität verspeisen kann wie in Tokio. Deshalb bleibt jeder noch so lange Besuch immer nur ein Streifzug durch die kulinarischen Weiten und Tiefen dieser Metropole, denn diese Stadt ist nicht zu fassen.
Der Original-Text aus dem Magazin wurde für die Online-Version evtl. gekürzt bzw. angepasst.
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